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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
schliessen. Unzähliche religiose Waschungen, und eine
Menge von Gebeten, Räucherungen und andre ge-
heimen Anstalten mußten vorhergehen, einen noch in
irdische Glieder gefesselten Geist zum Anschauen der
himmlischen Naturen vorzubereiten. Und auch alsdenn
würde unser sterblicher Theil den Glanz der göttlichen
Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die Dich-
ter unter der Geschichte der Semele zu erkennen gege-
ben) gänzlich davon verzehrt und vernichtet werden,
wenn sie sich nicht mit einer Art von körperlichem
Schleyer umhüllen, und durch diese Herablassung uns
nach und nach fähig machen würden, sie endlich selbst,
entkörpert und in ihrer wesentlichen Gestalt anzuschauen.
Jch war einfältig genug alle diese vorgegebene Geheim-
nisse für ächt zu halten; ich hörte dem ernsten Theogi-
ton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir
seine Unterweisungen so wohl zu Nuze, daß ich Tag
und Nacht an nichts anders dachte als an die ausseror-
dentliche Dinge, wovon ich in kurzem die Erfahrung
bekommen würde.

Du kanst dir einbilden, Danae, ob meine Phan-
tasie in dieser Zeit müßig war. Jch würde nicht fertig
werden, wenn ich alles beschreiben wollte, was da-
mals in ihr vorgieng, und mit welch einer Zauberey
sie mich in meinen Träumen bald in glüklichen Jnseln,
welche Pindar so prächtig schildert, bald zum Gastmal
der Götter, bald in die Elysischen Thäler, der Woh-
nung seliger Schatten, versezte.

So

Agathon.
ſchlieſſen. Unzaͤhliche religioſe Waſchungen, und eine
Menge von Gebeten, Raͤucherungen und andre ge-
heimen Anſtalten mußten vorhergehen, einen noch in
irdiſche Glieder gefeſſelten Geiſt zum Anſchauen der
himmliſchen Naturen vorzubereiten. Und auch alsdenn
wuͤrde unſer ſterblicher Theil den Glanz der goͤttlichen
Vollkommenheit nicht ertragen, ſondern (wie die Dich-
ter unter der Geſchichte der Semele zu erkennen gege-
ben) gaͤnzlich davon verzehrt und vernichtet werden,
wenn ſie ſich nicht mit einer Art von koͤrperlichem
Schleyer umhuͤllen, und durch dieſe Herablaſſung uns
nach und nach faͤhig machen wuͤrden, ſie endlich ſelbſt,
entkoͤrpert und in ihrer weſentlichen Geſtalt anzuſchauen.
Jch war einfaͤltig genug alle dieſe vorgegebene Geheim-
niſſe fuͤr aͤcht zu halten; ich hoͤrte dem ernſten Theogi-
ton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir
ſeine Unterweiſungen ſo wohl zu Nuze, daß ich Tag
und Nacht an nichts anders dachte als an die auſſeror-
dentliche Dinge, wovon ich in kurzem die Erfahrung
bekommen wuͤrde.

Du kanſt dir einbilden, Danae, ob meine Phan-
taſie in dieſer Zeit muͤßig war. Jch wuͤrde nicht fertig
werden, wenn ich alles beſchreiben wollte, was da-
mals in ihr vorgieng, und mit welch einer Zauberey
ſie mich in meinen Traͤumen bald in gluͤklichen Jnſeln,
welche Pindar ſo praͤchtig ſchildert, bald zum Gaſtmal
der Goͤtter, bald in die Elyſiſchen Thaͤler, der Woh-
nung ſeliger Schatten, verſezte.

So
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[268/0290] Agathon. ſchlieſſen. Unzaͤhliche religioſe Waſchungen, und eine Menge von Gebeten, Raͤucherungen und andre ge- heimen Anſtalten mußten vorhergehen, einen noch in irdiſche Glieder gefeſſelten Geiſt zum Anſchauen der himmliſchen Naturen vorzubereiten. Und auch alsdenn wuͤrde unſer ſterblicher Theil den Glanz der goͤttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, ſondern (wie die Dich- ter unter der Geſchichte der Semele zu erkennen gege- ben) gaͤnzlich davon verzehrt und vernichtet werden, wenn ſie ſich nicht mit einer Art von koͤrperlichem Schleyer umhuͤllen, und durch dieſe Herablaſſung uns nach und nach faͤhig machen wuͤrden, ſie endlich ſelbſt, entkoͤrpert und in ihrer weſentlichen Geſtalt anzuſchauen. Jch war einfaͤltig genug alle dieſe vorgegebene Geheim- niſſe fuͤr aͤcht zu halten; ich hoͤrte dem ernſten Theogi- ton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir ſeine Unterweiſungen ſo wohl zu Nuze, daß ich Tag und Nacht an nichts anders dachte als an die auſſeror- dentliche Dinge, wovon ich in kurzem die Erfahrung bekommen wuͤrde. Du kanſt dir einbilden, Danae, ob meine Phan- taſie in dieſer Zeit muͤßig war. Jch wuͤrde nicht fertig werden, wenn ich alles beſchreiben wollte, was da- mals in ihr vorgieng, und mit welch einer Zauberey ſie mich in meinen Traͤumen bald in gluͤklichen Jnſeln, welche Pindar ſo praͤchtig ſchildert, bald zum Gaſtmal der Goͤtter, bald in die Elyſiſchen Thaͤler, der Woh- nung ſeliger Schatten, verſezte. So

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/290>, abgerufen am 24.11.2024.