Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
dem ich eine Menge von schwülstigen Liedern und An-
ruffungsformeln hergesagt hatte, legte ich mich, mit
dem Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, wel-
cher eben damals in die Grotte schien, auf die Ruhe-
bank zurük, und überließ mich der Vorstellung, wie
mir seyn würde, wenn Luna aus ihrer Silbersphäre
herabsteigen, und mich zu ihrem Endymion machen
würde. Mitten in diesen ausschweiffenden Vorstellun-
gen, unter denen ich allmählich zu entschlummern an-
sieng, wekte mich plözlich ein liebliches Getön, welches
in einiger Entfernung über mir zu schweben schien, und
wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Say-
tenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen
pflegt. Einem natürlich gestimmten Menschen würde
gedäucht haben, er höre ein gutes Stük von einer ge-
schikten Hand ausgeführt; und so hätte er sich nicht
betrügen können. Aber in der Verfassung, worinn ich
damals war, hätte ich vielleicht das Gequäke eines
Chors von Fröschen für den Gesang der Musen gehalten.
Die Musik, die ich hörte, rührte, fesselte, entzükte
mich; sie übertraf, meiner eingebildeten Empfindung
nach (denn die Phantasie hat auch ihre Empfindungen,)
alles was ich jemals gehört hatte; nur Apollo, der Va-
ter der Harmonie, dessen Laute die Sphären ihre Göt-
ter-vergnügende Harmonien gelehrt hatte, konnte so
überirdische Töne hervorbringen. Meine Seele schien
davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden,
und, lauter Ohr, über den Wolken zu schweben; als
diese Musik plözlich aufhörte, und mich in einer Ver-

wirrung

Agathon.
dem ich eine Menge von ſchwuͤlſtigen Liedern und An-
ruffungsformeln hergeſagt hatte, legte ich mich, mit
dem Angeſicht gegen den vollen Mond gekehrt, wel-
cher eben damals in die Grotte ſchien, auf die Ruhe-
bank zuruͤk, und uͤberließ mich der Vorſtellung, wie
mir ſeyn wuͤrde, wenn Luna aus ihrer Silberſphaͤre
herabſteigen, und mich zu ihrem Endymion machen
wuͤrde. Mitten in dieſen ausſchweiffenden Vorſtellun-
gen, unter denen ich allmaͤhlich zu entſchlummern an-
ſieng, wekte mich ploͤzlich ein liebliches Getoͤn, welches
in einiger Entfernung uͤber mir zu ſchweben ſchien, und
wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Say-
tenſpiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen
pflegt. Einem natuͤrlich geſtimmten Menſchen wuͤrde
gedaͤucht haben, er hoͤre ein gutes Stuͤk von einer ge-
ſchikten Hand ausgefuͤhrt; und ſo haͤtte er ſich nicht
betruͤgen koͤnnen. Aber in der Verfaſſung, worinn ich
damals war, haͤtte ich vielleicht das Gequaͤke eines
Chors von Froͤſchen fuͤr den Geſang der Muſen gehalten.
Die Muſik, die ich hoͤrte, ruͤhrte, feſſelte, entzuͤkte
mich; ſie uͤbertraf, meiner eingebildeten Empfindung
nach (denn die Phantaſie hat auch ihre Empfindungen,)
alles was ich jemals gehoͤrt hatte; nur Apollo, der Va-
ter der Harmonie, deſſen Laute die Sphaͤren ihre Goͤt-
ter-vergnuͤgende Harmonien gelehrt hatte, konnte ſo
uͤberirdiſche Toͤne hervorbringen. Meine Seele ſchien
davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden,
und, lauter Ohr, uͤber den Wolken zu ſchweben; als
dieſe Muſik ploͤzlich aufhoͤrte, und mich in einer Ver-

wirrung
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0292" n="270"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
dem ich eine Menge von &#x017F;chwu&#x0364;l&#x017F;tigen Liedern und An-<lb/>
ruffungsformeln herge&#x017F;agt hatte, legte ich mich, mit<lb/>
dem Ange&#x017F;icht gegen den vollen Mond gekehrt, wel-<lb/>
cher eben damals in die Grotte &#x017F;chien, auf die Ruhe-<lb/>
bank zuru&#x0364;k, und u&#x0364;berließ mich der Vor&#x017F;tellung, wie<lb/>
mir &#x017F;eyn wu&#x0364;rde, wenn Luna aus ihrer Silber&#x017F;pha&#x0364;re<lb/>
herab&#x017F;teigen, und mich zu ihrem Endymion machen<lb/>
wu&#x0364;rde. Mitten in die&#x017F;en aus&#x017F;chweiffenden Vor&#x017F;tellun-<lb/>
gen, unter denen ich allma&#x0364;hlich zu ent&#x017F;chlummern an-<lb/>
&#x017F;ieng, wekte mich plo&#x0364;zlich ein liebliches Geto&#x0364;n, welches<lb/>
in einiger Entfernung u&#x0364;ber mir zu &#x017F;chweben &#x017F;chien, und<lb/>
wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Say-<lb/>
ten&#x017F;piel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen<lb/>
pflegt. Einem natu&#x0364;rlich ge&#x017F;timmten Men&#x017F;chen wu&#x0364;rde<lb/>
geda&#x0364;ucht haben, er ho&#x0364;re ein gutes Stu&#x0364;k von einer ge-<lb/>
&#x017F;chikten Hand ausgefu&#x0364;hrt; und &#x017F;o ha&#x0364;tte er &#x017F;ich nicht<lb/>
betru&#x0364;gen ko&#x0364;nnen. Aber in der Verfa&#x017F;&#x017F;ung, worinn ich<lb/>
damals war, ha&#x0364;tte ich vielleicht das Gequa&#x0364;ke eines<lb/>
Chors von Fro&#x0364;&#x017F;chen fu&#x0364;r den Ge&#x017F;ang der Mu&#x017F;en gehalten.<lb/>
Die Mu&#x017F;ik, die ich ho&#x0364;rte, ru&#x0364;hrte, fe&#x017F;&#x017F;elte, entzu&#x0364;kte<lb/>
mich; &#x017F;ie u&#x0364;bertraf, meiner eingebildeten Empfindung<lb/>
nach (denn die Phanta&#x017F;ie hat auch ihre Empfindungen,)<lb/>
alles was ich jemals geho&#x0364;rt hatte; nur Apollo, der Va-<lb/>
ter der Harmonie, de&#x017F;&#x017F;en Laute die Spha&#x0364;ren ihre Go&#x0364;t-<lb/>
ter-vergnu&#x0364;gende Harmonien gelehrt hatte, konnte &#x017F;o<lb/>
u&#x0364;berirdi&#x017F;che To&#x0364;ne hervorbringen. Meine Seele &#x017F;chien<lb/>
davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden,<lb/>
und, lauter Ohr, u&#x0364;ber den Wolken zu &#x017F;chweben; als<lb/>
die&#x017F;e Mu&#x017F;ik plo&#x0364;zlich aufho&#x0364;rte, und mich in einer Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wirrung</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[270/0292] Agathon. dem ich eine Menge von ſchwuͤlſtigen Liedern und An- ruffungsformeln hergeſagt hatte, legte ich mich, mit dem Angeſicht gegen den vollen Mond gekehrt, wel- cher eben damals in die Grotte ſchien, auf die Ruhe- bank zuruͤk, und uͤberließ mich der Vorſtellung, wie mir ſeyn wuͤrde, wenn Luna aus ihrer Silberſphaͤre herabſteigen, und mich zu ihrem Endymion machen wuͤrde. Mitten in dieſen ausſchweiffenden Vorſtellun- gen, unter denen ich allmaͤhlich zu entſchlummern an- ſieng, wekte mich ploͤzlich ein liebliches Getoͤn, welches in einiger Entfernung uͤber mir zu ſchweben ſchien, und wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Say- tenſpiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt. Einem natuͤrlich geſtimmten Menſchen wuͤrde gedaͤucht haben, er hoͤre ein gutes Stuͤk von einer ge- ſchikten Hand ausgefuͤhrt; und ſo haͤtte er ſich nicht betruͤgen koͤnnen. Aber in der Verfaſſung, worinn ich damals war, haͤtte ich vielleicht das Gequaͤke eines Chors von Froͤſchen fuͤr den Geſang der Muſen gehalten. Die Muſik, die ich hoͤrte, ruͤhrte, feſſelte, entzuͤkte mich; ſie uͤbertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantaſie hat auch ihre Empfindungen,) alles was ich jemals gehoͤrt hatte; nur Apollo, der Va- ter der Harmonie, deſſen Laute die Sphaͤren ihre Goͤt- ter-vergnuͤgende Harmonien gelehrt hatte, konnte ſo uͤberirdiſche Toͤne hervorbringen. Meine Seele ſchien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden, und, lauter Ohr, uͤber den Wolken zu ſchweben; als dieſe Muſik ploͤzlich aufhoͤrte, und mich in einer Ver- wirrung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/292
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/292>, abgerufen am 02.05.2024.