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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
merey, welche der weise Hippias deinem Callias vor-
wirft; diese Schwärmerey, die ich vielleicht in einem
minder erhabnen Licht sehe, seitdem ich ihre wahre
Quelle entdekt zu haben glaube; aber die ich nichts de-
sto weniger für diejenige Gemüthsbeschaffenheit halte,
welche uns, unter den nöthigen Einschränkungen, glük-
licher als irgend eine andre machen kan.

Du begreiffest leicht, schöne Danae, daß unter
lauter Gegenständen, welche über die gewöhnliche Na-
tur erhaben, und selbst schon idealisch sind, jenes phan-
tastische Modell, dessen ich vorhin erwähnte, in einem
so ungewöhnlichen Grade abgezogen und überirdisch
werden mußte, daß bey zunehmendem Alter alles was
ich würklich sah, weit unter demjenigen war, was sich
meine Einbildungskraft zu sehen wünschte. Jn dieser
Gemüthsverfassung war ich, als einer von den Prie-
stern zu Delphi aus Absichten, welche sich erst in der
Folg' entwikelten, es übernahm, mich in den Geheim-
nissen der Orphischen Philosophie einzuweyhen; der
einzigen, die von unsern Priestern hochgeachtet wurde,
weil sie die Vernunft selbst auf ihre Partey zu ziehen,
und den Glauben von dessen unbeweglichem Ansehen das
ihrige abhieng, einen festern Grund als die Tradition
und die Fabeln der Dichter, zu geben schien.

Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht
der Entzükung, in die ich hingezogen wurde, als ich
in den Händen dieses Egpptiers, der die geheime Göt-

lerlehre

Agathon.
merey, welche der weiſe Hippias deinem Callias vor-
wirft; dieſe Schwaͤrmerey, die ich vielleicht in einem
minder erhabnen Licht ſehe, ſeitdem ich ihre wahre
Quelle entdekt zu haben glaube; aber die ich nichts de-
ſto weniger fuͤr diejenige Gemuͤthsbeſchaffenheit halte,
welche uns, unter den noͤthigen Einſchraͤnkungen, gluͤk-
licher als irgend eine andre machen kan.

Du begreiffeſt leicht, ſchoͤne Danae, daß unter
lauter Gegenſtaͤnden, welche uͤber die gewoͤhnliche Na-
tur erhaben, und ſelbſt ſchon idealiſch ſind, jenes phan-
taſtiſche Modell, deſſen ich vorhin erwaͤhnte, in einem
ſo ungewoͤhnlichen Grade abgezogen und uͤberirdiſch
werden mußte, daß bey zunehmendem Alter alles was
ich wuͤrklich ſah, weit unter demjenigen war, was ſich
meine Einbildungskraft zu ſehen wuͤnſchte. Jn dieſer
Gemuͤthsverfaſſung war ich, als einer von den Prie-
ſtern zu Delphi aus Abſichten, welche ſich erſt in der
Folg’ entwikelten, es uͤbernahm, mich in den Geheim-
niſſen der Orphiſchen Philoſophie einzuweyhen; der
einzigen, die von unſern Prieſtern hochgeachtet wurde,
weil ſie die Vernunft ſelbſt auf ihre Partey zu ziehen,
und den Glauben von deſſen unbeweglichem Anſehen das
ihrige abhieng, einen feſtern Grund als die Tradition
und die Fabeln der Dichter, zu geben ſchien.

Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht
der Entzuͤkung, in die ich hingezogen wurde, als ich
in den Haͤnden dieſes Egpptiers, der die geheime Goͤt-

lerlehre
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[262/0284] Agathon. merey, welche der weiſe Hippias deinem Callias vor- wirft; dieſe Schwaͤrmerey, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht ſehe, ſeitdem ich ihre wahre Quelle entdekt zu haben glaube; aber die ich nichts de- ſto weniger fuͤr diejenige Gemuͤthsbeſchaffenheit halte, welche uns, unter den noͤthigen Einſchraͤnkungen, gluͤk- licher als irgend eine andre machen kan. Du begreiffeſt leicht, ſchoͤne Danae, daß unter lauter Gegenſtaͤnden, welche uͤber die gewoͤhnliche Na- tur erhaben, und ſelbſt ſchon idealiſch ſind, jenes phan- taſtiſche Modell, deſſen ich vorhin erwaͤhnte, in einem ſo ungewoͤhnlichen Grade abgezogen und uͤberirdiſch werden mußte, daß bey zunehmendem Alter alles was ich wuͤrklich ſah, weit unter demjenigen war, was ſich meine Einbildungskraft zu ſehen wuͤnſchte. Jn dieſer Gemuͤthsverfaſſung war ich, als einer von den Prie- ſtern zu Delphi aus Abſichten, welche ſich erſt in der Folg’ entwikelten, es uͤbernahm, mich in den Geheim- niſſen der Orphiſchen Philoſophie einzuweyhen; der einzigen, die von unſern Prieſtern hochgeachtet wurde, weil ſie die Vernunft ſelbſt auf ihre Partey zu ziehen, und den Glauben von deſſen unbeweglichem Anſehen das ihrige abhieng, einen feſtern Grund als die Tradition und die Fabeln der Dichter, zu geben ſchien. Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzuͤkung, in die ich hingezogen wurde, als ich in den Haͤnden dieſes Egpptiers, der die geheime Goͤt- lerlehre

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/284>, abgerufen am 24.11.2024.