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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, erstes Capitel.

So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, däucht
mich, daß sich in einer jeden, die zu einem gewissen
Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge-
wisses idealisches Schöne bilde, welches (auch ohne
daß man sich's bewußt ist) unsern Geschmak und unsre
sittliche Urtheile bestimmt, und das Modell abgiebt,
wornach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder
dessen was wir groß, schön und vortreflich nennen, zu
entwerfen scheint. Dieses idealische Modell formiert
sich (wie mich izo wenigstens däucht, nachdem neue
Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be-
trachtungen geleitet haben) aus der Beschaffenheit und
dem Zusammenhang der Gegenstände, worinn wir zu
leben anfangen.

Daher (wie die Erfahrung zu bestätigen scheint)
so viele besondere Denk- und Sinnesarten als man ver-
schiedene Erziehungen und Stände in der menschli-
chen Gesellschaft antrift. Daher der Spartanische Hel-
denmuth, die Attische Urbanität, und der aufgedun-
sene Stolz der Asiaten; daher die Verachtung des Geo-
meters für den Dichter, oder des speculierenden Kauf-
manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die
ihm unfruchtbar scheinen, weil sie sich in keine Dari-
ci verwandeln wie die seinigen; daher der grobe Ma-
terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un-
gestüm des Seefahrers, die mechanische Unempfindlich-
keit des Soldaten, und die einfältige Schlauheit des
Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die Schwär-

merey,
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Siebentes Buch, erſtes Capitel.

So viel ich die Natur unſrer Seele kenne, daͤucht
mich, daß ſich in einer jeden, die zu einem gewiſſen
Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge-
wiſſes idealiſches Schoͤne bilde, welches (auch ohne
daß man ſich’s bewußt iſt) unſern Geſchmak und unſre
ſittliche Urtheile beſtimmt, und das Modell abgiebt,
wornach unſre Einbildungskraft die beſondern Bilder
deſſen was wir groß, ſchoͤn und vortreflich nennen, zu
entwerfen ſcheint. Dieſes idealiſche Modell formiert
ſich (wie mich izo wenigſtens daͤucht, nachdem neue
Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be-
trachtungen geleitet haben) aus der Beſchaffenheit und
dem Zuſammenhang der Gegenſtaͤnde, worinn wir zu
leben anfangen.

Daher (wie die Erfahrung zu beſtaͤtigen ſcheint)
ſo viele beſondere Denk- und Sinnesarten als man ver-
ſchiedene Erziehungen und Staͤnde in der menſchli-
chen Geſellſchaft antrift. Daher der Spartaniſche Hel-
denmuth, die Attiſche Urbanitaͤt, und der aufgedun-
ſene Stolz der Aſiaten; daher die Verachtung des Geo-
meters fuͤr den Dichter, oder des ſpeculierenden Kauf-
manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die
ihm unfruchtbar ſcheinen, weil ſie ſich in keine Dari-
ci verwandeln wie die ſeinigen; daher der grobe Ma-
terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un-
geſtuͤm des Seefahrers, die mechaniſche Unempfindlich-
keit des Soldaten, und die einfaͤltige Schlauheit des
Landvolks; daher endlich, ſchoͤne Danae, die Schwaͤr-

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[261/0283] Siebentes Buch, erſtes Capitel. So viel ich die Natur unſrer Seele kenne, daͤucht mich, daß ſich in einer jeden, die zu einem gewiſſen Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge- wiſſes idealiſches Schoͤne bilde, welches (auch ohne daß man ſich’s bewußt iſt) unſern Geſchmak und unſre ſittliche Urtheile beſtimmt, und das Modell abgiebt, wornach unſre Einbildungskraft die beſondern Bilder deſſen was wir groß, ſchoͤn und vortreflich nennen, zu entwerfen ſcheint. Dieſes idealiſche Modell formiert ſich (wie mich izo wenigſtens daͤucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be- trachtungen geleitet haben) aus der Beſchaffenheit und dem Zuſammenhang der Gegenſtaͤnde, worinn wir zu leben anfangen. Daher (wie die Erfahrung zu beſtaͤtigen ſcheint) ſo viele beſondere Denk- und Sinnesarten als man ver- ſchiedene Erziehungen und Staͤnde in der menſchli- chen Geſellſchaft antrift. Daher der Spartaniſche Hel- denmuth, die Attiſche Urbanitaͤt, und der aufgedun- ſene Stolz der Aſiaten; daher die Verachtung des Geo- meters fuͤr den Dichter, oder des ſpeculierenden Kauf- manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar ſcheinen, weil ſie ſich in keine Dari- ci verwandeln wie die ſeinigen; daher der grobe Ma- terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un- geſtuͤm des Seefahrers, die mechaniſche Unempfindlich- keit des Soldaten, und die einfaͤltige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, ſchoͤne Danae, die Schwaͤr- merey, R 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/283>, abgerufen am 24.11.2024.