Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Buch, erstes Capitel.
terlehre seiner Nation zu uns gebracht hat, in das
Reich der Geister eingeführt, und zu einer Zeit, da die
erhabensten Gemählde Homers und Pindars ihren Reiz
für mich verlohren hatten, mitten in der materiellen
Welt mir eine Neue, mit lauter unsterblichen Schön-
heiten erfüllt, und von lauter Göttern bewohnt, eröf-
net wurde.

Das Alter, worinn ich damals war, ist dasjenige,
worinn wir, aus dem langen Traum der Kindheit er-
wachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die Welt
um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neu-
gierig sind, unsre eigne Natur und den Schauplaz,
worauf wir uns ohn unser Zuthun versezt sehen, ken-
nen zu lernen. Wie willkommen ist uns in diesem Alter
eine Philosophie, welche den Vortheil unsrer Wissens-
begierde mit dieser Neigung zum Wunderbaren und
dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit, welche der Jugend ei-
gen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beant-
wortet, alle Räthsel erklärt, alle Aufgaben auflöset;
eine Philosophie, welche destomehr mit dem warmen
und gefühllosen Herzen der Jugend sympatisiert, weil
sie alles Unempfindliche und Todte aus der Natur ver-
bannet, und jeden Atom der Schöpfung mit lebenden
und geistigen Wesen bevölkert, jeden Punct der Zeit
mit verborgnen Begebenheiten und grossen Scenen be-
fruchtet, welche für künftige Ewigkeiten heraureiffen;
ein System, welches die Schöpfung so unermeßlich
macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anschei-

nenden
R 4

Siebentes Buch, erſtes Capitel.
terlehre ſeiner Nation zu uns gebracht hat, in das
Reich der Geiſter eingefuͤhrt, und zu einer Zeit, da die
erhabenſten Gemaͤhlde Homers und Pindars ihren Reiz
fuͤr mich verlohren hatten, mitten in der materiellen
Welt mir eine Neue, mit lauter unſterblichen Schoͤn-
heiten erfuͤllt, und von lauter Goͤttern bewohnt, eroͤf-
net wurde.

Das Alter, worinn ich damals war, iſt dasjenige,
worinn wir, aus dem langen Traum der Kindheit er-
wachend, uns ſelbſt zuerſt zu finden glauben, die Welt
um uns her mit erſtaunten Augen betrachten, und neu-
gierig ſind, unſre eigne Natur und den Schauplaz,
worauf wir uns ohn unſer Zuthun verſezt ſehen, ken-
nen zu lernen. Wie willkommen iſt uns in dieſem Alter
eine Philoſophie, welche den Vortheil unſrer Wiſſens-
begierde mit dieſer Neigung zum Wunderbaren und
dieſer arbeitſcheuen Fluͤchtigkeit, welche der Jugend ei-
gen ſind, vereiniget, welche alle unſre Fragen beant-
wortet, alle Raͤthſel erklaͤrt, alle Aufgaben aufloͤſet;
eine Philoſophie, welche deſtomehr mit dem warmen
und gefuͤhlloſen Herzen der Jugend ſympatiſiert, weil
ſie alles Unempfindliche und Todte aus der Natur ver-
bannet, und jeden Atom der Schoͤpfung mit lebenden
und geiſtigen Weſen bevoͤlkert, jeden Punct der Zeit
mit verborgnen Begebenheiten und groſſen Scenen be-
fruchtet, welche fuͤr kuͤnftige Ewigkeiten heraureiffen;
ein Syſtem, welches die Schoͤpfung ſo unermeßlich
macht, als ihr Urheber iſt; welches uns in der anſchei-

nenden
R 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0285" n="263"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Siebentes Buch, er&#x017F;tes Capitel.</hi></fw><lb/>
terlehre &#x017F;einer Nation zu uns gebracht hat, in das<lb/>
Reich der Gei&#x017F;ter eingefu&#x0364;hrt, und zu einer Zeit, da die<lb/>
erhaben&#x017F;ten Gema&#x0364;hlde Homers und Pindars ihren Reiz<lb/>
fu&#x0364;r mich verlohren hatten, mitten in der materiellen<lb/>
Welt mir eine Neue, mit lauter un&#x017F;terblichen Scho&#x0364;n-<lb/>
heiten erfu&#x0364;llt, und von lauter Go&#x0364;ttern bewohnt, ero&#x0364;f-<lb/>
net wurde.</p><lb/>
            <p>Das Alter, worinn ich damals war, i&#x017F;t dasjenige,<lb/>
worinn wir, aus dem langen Traum der Kindheit er-<lb/>
wachend, uns &#x017F;elb&#x017F;t zuer&#x017F;t zu finden glauben, die Welt<lb/>
um uns her mit er&#x017F;taunten Augen betrachten, und neu-<lb/>
gierig &#x017F;ind, un&#x017F;re eigne Natur und den Schauplaz,<lb/>
worauf wir uns ohn un&#x017F;er Zuthun ver&#x017F;ezt &#x017F;ehen, ken-<lb/>
nen zu lernen. Wie willkommen i&#x017F;t uns in die&#x017F;em Alter<lb/>
eine Philo&#x017F;ophie, welche den Vortheil un&#x017F;rer Wi&#x017F;&#x017F;ens-<lb/>
begierde mit die&#x017F;er Neigung zum Wunderbaren und<lb/>
die&#x017F;er arbeit&#x017F;cheuen Flu&#x0364;chtigkeit, welche der Jugend ei-<lb/>
gen &#x017F;ind, vereiniget, welche alle un&#x017F;re Fragen beant-<lb/>
wortet, alle Ra&#x0364;th&#x017F;el erkla&#x0364;rt, alle Aufgaben auflo&#x0364;&#x017F;et;<lb/>
eine Philo&#x017F;ophie, welche de&#x017F;tomehr mit dem warmen<lb/>
und gefu&#x0364;hllo&#x017F;en Herzen der Jugend &#x017F;ympati&#x017F;iert, weil<lb/>
&#x017F;ie alles Unempfindliche und Todte aus der Natur ver-<lb/>
bannet, und jeden Atom der Scho&#x0364;pfung mit lebenden<lb/>
und gei&#x017F;tigen We&#x017F;en bevo&#x0364;lkert, jeden Punct der Zeit<lb/>
mit verborgnen Begebenheiten und gro&#x017F;&#x017F;en Scenen be-<lb/>
fruchtet, welche fu&#x0364;r ku&#x0364;nftige Ewigkeiten heraureiffen;<lb/>
ein Sy&#x017F;tem, welches die Scho&#x0364;pfung &#x017F;o unermeßlich<lb/>
macht, als ihr Urheber i&#x017F;t; welches uns in der an&#x017F;chei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R 4</fw><fw place="bottom" type="catch">nenden</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[263/0285] Siebentes Buch, erſtes Capitel. terlehre ſeiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geiſter eingefuͤhrt, und zu einer Zeit, da die erhabenſten Gemaͤhlde Homers und Pindars ihren Reiz fuͤr mich verlohren hatten, mitten in der materiellen Welt mir eine Neue, mit lauter unſterblichen Schoͤn- heiten erfuͤllt, und von lauter Goͤttern bewohnt, eroͤf- net wurde. Das Alter, worinn ich damals war, iſt dasjenige, worinn wir, aus dem langen Traum der Kindheit er- wachend, uns ſelbſt zuerſt zu finden glauben, die Welt um uns her mit erſtaunten Augen betrachten, und neu- gierig ſind, unſre eigne Natur und den Schauplaz, worauf wir uns ohn unſer Zuthun verſezt ſehen, ken- nen zu lernen. Wie willkommen iſt uns in dieſem Alter eine Philoſophie, welche den Vortheil unſrer Wiſſens- begierde mit dieſer Neigung zum Wunderbaren und dieſer arbeitſcheuen Fluͤchtigkeit, welche der Jugend ei- gen ſind, vereiniget, welche alle unſre Fragen beant- wortet, alle Raͤthſel erklaͤrt, alle Aufgaben aufloͤſet; eine Philoſophie, welche deſtomehr mit dem warmen und gefuͤhlloſen Herzen der Jugend ſympatiſiert, weil ſie alles Unempfindliche und Todte aus der Natur ver- bannet, und jeden Atom der Schoͤpfung mit lebenden und geiſtigen Weſen bevoͤlkert, jeden Punct der Zeit mit verborgnen Begebenheiten und groſſen Scenen be- fruchtet, welche fuͤr kuͤnftige Ewigkeiten heraureiffen; ein Syſtem, welches die Schoͤpfung ſo unermeßlich macht, als ihr Urheber iſt; welches uns in der anſchei- nenden R 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/285
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/285>, abgerufen am 24.11.2024.