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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
Zweytes Capitel.
Etwas ganz Unerwartetes.

Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der
Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen,
so ist nicht minder gewiß, daß diese Verbindung unter
einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher
scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel
seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen-
Schreiber zu dichten wagen dürfte. Dasjenige, was
unserm Helden in dieser Nacht begegnete, giebt mir
neue Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß
noch der Süßigkeit des Schlafs, den Homer für ein so
grosses Gut hält, daß er ihn auch den Unsterblichen
zueignet; als er durch ein lermendes Getöse plözlich
aufgeschrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo-
her es zu kommen schiene, und glaubte in dem ver-
mischten Getümmel ein seltsames Heulen und Jauchzen
zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden
Felsen auf eine fürchterliche Art wiederhallte. Agathon,
der nur im Schlaf erschrekt werden konnte, beschloß
diesem Getöse mit eben dem Muth entgegen zu gehen,
womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von
Mancha dem nächtlichen Klappern der Walkmühlen
Troz bot. Er bestieg also den obern Theil des Berges
mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus

den
Agathon,
Zweytes Capitel.
Etwas ganz Unerwartetes.

Wenn es ſeine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der
Welt in der genaueſten Beziehung auf einander ſtehen,
ſo iſt nicht minder gewiß, daß dieſe Verbindung unter
einzelnen Dingen oft ganz unmerklich iſt; und daher
ſcheint es zu kommen, daß die Geſchichte zuweilen viel
ſeltſamere Begebenheiten erzaͤhlt, als ein Romanen-
Schreiber zu dichten wagen duͤrfte. Dasjenige, was
unſerm Helden in dieſer Nacht begegnete, giebt mir
neue Bekraͤftigung dieſer Beobachtung ab. Er genoß
noch der Suͤßigkeit des Schlafs, den Homer fuͤr ein ſo
groſſes Gut haͤlt, daß er ihn auch den Unſterblichen
zueignet; als er durch ein lermendes Getoͤſe ploͤzlich
aufgeſchrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo-
her es zu kommen ſchiene, und glaubte in dem ver-
miſchten Getuͤmmel ein ſeltſames Heulen und Jauchzen
zu unterſcheiden, welches von den entgegenſtehenden
Felſen auf eine fuͤrchterliche Art wiederhallte. Agathon,
der nur im Schlaf erſchrekt werden konnte, beſchloß
dieſem Getoͤſe mit eben dem Muth entgegen zu gehen,
womit in ſpaͤtern Zeiten der unbezwingbare Ritter von
Mancha dem naͤchtlichen Klappern der Walkmuͤhlen
Troz bot. Er beſtieg alſo den obern Theil des Berges
mit ſo vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
deſſen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus

den
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[6/0028] Agathon, Zweytes Capitel. Etwas ganz Unerwartetes. Wenn es ſeine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genaueſten Beziehung auf einander ſtehen, ſo iſt nicht minder gewiß, daß dieſe Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich iſt; und daher ſcheint es zu kommen, daß die Geſchichte zuweilen viel ſeltſamere Begebenheiten erzaͤhlt, als ein Romanen- Schreiber zu dichten wagen duͤrfte. Dasjenige, was unſerm Helden in dieſer Nacht begegnete, giebt mir neue Bekraͤftigung dieſer Beobachtung ab. Er genoß noch der Suͤßigkeit des Schlafs, den Homer fuͤr ein ſo groſſes Gut haͤlt, daß er ihn auch den Unſterblichen zueignet; als er durch ein lermendes Getoͤſe ploͤzlich aufgeſchrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo- her es zu kommen ſchiene, und glaubte in dem ver- miſchten Getuͤmmel ein ſeltſames Heulen und Jauchzen zu unterſcheiden, welches von den entgegenſtehenden Felſen auf eine fuͤrchterliche Art wiederhallte. Agathon, der nur im Schlaf erſchrekt werden konnte, beſchloß dieſem Getoͤſe mit eben dem Muth entgegen zu gehen, womit in ſpaͤtern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem naͤchtlichen Klappern der Walkmuͤhlen Troz bot. Er beſtieg alſo den obern Theil des Berges mit ſo vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond, deſſen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/28>, abgerufen am 28.03.2024.