Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Erstes Buch, erstes Capitel. dem Weisen des Seneca zeigen werden, so halten wirfür wahrscheinlicher, daß seine Seele von der Art der- jenigen gewesen sey, welche dem Vergnügen immer of- fen stehen, und bey denen eine einzige angenehme Em- pfindung hinlänglich ist, sie alles vergangnen und künf- tigen Kummers vergessen zu machen. Eine Oefnung des Waldes zwischen zween Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als diesen Anblik, um die Empfindung seiner widrigen Um- stände zu unterbrechen. Er überließ sich der Begeiste- rung, worinn dieses majestätische Schauspiel empfindli- che Seelen zu sezen pflegt, ohne eine lange Zeit sich seiner dringendsten Bedürfnisse zu erinnern. Endlich wekte ihn doch das Rauschen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus einem Felsen hervor sprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worinn er etliche Minu- ten sich selbst vergessen hatte; er stand auf, und schöpfte mit der holen Hand von diesem Wasser, dessen fliessenden Cristall, seiner Einbildung nach, eine wohlthätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen goß; und anstatt die von Cyprischem Wein sprudelnde Be- cher der Athenischen Gastmäler zu vermissen, däuchte ihm, daß er niemals angenehmer getrunken habe. Er legte sich hierauf wieder nieder, entschlief unter dem sanft- betäubenden Gemurmel der Quelle, und träumte, daß er seine geliebte Psyche wieder gefunden habe, deren Verlust das einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seuf- zer auspreßte. Zwey- A 3
Erſtes Buch, erſtes Capitel. dem Weiſen des Seneca zeigen werden, ſo halten wirfuͤr wahrſcheinlicher, daß ſeine Seele von der Art der- jenigen geweſen ſey, welche dem Vergnuͤgen immer of- fen ſtehen, und bey denen eine einzige angenehme Em- pfindung hinlaͤnglich iſt, ſie alles vergangnen und kuͤnf- tigen Kummers vergeſſen zu machen. Eine Oefnung des Waldes zwiſchen zween Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als dieſen Anblik, um die Empfindung ſeiner widrigen Um- ſtaͤnde zu unterbrechen. Er uͤberließ ſich der Begeiſte- rung, worinn dieſes majeſtaͤtiſche Schauſpiel empfindli- che Seelen zu ſezen pflegt, ohne eine lange Zeit ſich ſeiner dringendſten Beduͤrfniſſe zu erinnern. Endlich wekte ihn doch das Rauſchen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus einem Felſen hervor ſprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worinn er etliche Minu- ten ſich ſelbſt vergeſſen hatte; er ſtand auf, und ſchoͤpfte mit der holen Hand von dieſem Waſſer, deſſen flieſſenden Criſtall, ſeiner Einbildung nach, eine wohlthaͤtige Nymphe ſeinen Durſt zu ſtillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen goß; und anſtatt die von Cypriſchem Wein ſprudelnde Be- cher der Atheniſchen Gaſtmaͤler zu vermiſſen, daͤuchte ihm, daß er niemals angenehmer getrunken habe. Er legte ſich hierauf wieder nieder, entſchlief unter dem ſanft- betaͤubenden Gemurmel der Quelle, und traͤumte, daß er ſeine geliebte Pſyche wieder gefunden habe, deren Verluſt das einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seuf- zer auspreßte. Zwey- A 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0027" n="5"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Erſtes Buch, erſtes Capitel.</hi></fw><lb/> dem Weiſen des Seneca zeigen werden, ſo halten wir<lb/> fuͤr wahrſcheinlicher, daß ſeine Seele von der Art der-<lb/> jenigen geweſen ſey, welche dem Vergnuͤgen immer of-<lb/> fen ſtehen, und bey denen eine einzige angenehme Em-<lb/> pfindung hinlaͤnglich iſt, ſie alles vergangnen und kuͤnf-<lb/> tigen Kummers vergeſſen zu machen. Eine Oefnung<lb/> des Waldes zwiſchen zween Bergen zeigte ihm von fern<lb/> die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als<lb/> dieſen Anblik, um die Empfindung ſeiner widrigen Um-<lb/> ſtaͤnde zu unterbrechen. Er uͤberließ ſich der Begeiſte-<lb/> rung, worinn dieſes majeſtaͤtiſche Schauſpiel empfindli-<lb/> che Seelen zu ſezen pflegt, ohne eine lange Zeit ſich<lb/> ſeiner dringendſten Beduͤrfniſſe zu erinnern. Endlich<lb/> wekte ihn doch das Rauſchen einer Quelle, die nicht<lb/> weit von ihm aus einem Felſen hervor ſprudelte, aus<lb/> dem angenehmen Staunen, worinn er etliche Minu-<lb/> ten ſich ſelbſt vergeſſen hatte; er ſtand auf, und ſchoͤpfte<lb/> mit der holen Hand von dieſem Waſſer, deſſen flieſſenden<lb/> Criſtall, ſeiner Einbildung nach, eine wohlthaͤtige Nymphe<lb/> ſeinen Durſt zu ſtillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen<lb/> goß; und anſtatt die von Cypriſchem Wein ſprudelnde Be-<lb/> cher der Atheniſchen Gaſtmaͤler zu vermiſſen, daͤuchte<lb/> ihm, daß er niemals angenehmer getrunken habe. Er<lb/> legte ſich hierauf wieder nieder, entſchlief unter dem ſanft-<lb/> betaͤubenden Gemurmel der Quelle, und traͤumte, daß er<lb/> ſeine geliebte Pſyche wieder gefunden habe, deren Verluſt<lb/> das einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seuf-<lb/> zer auspreßte.</p> </div><lb/> <fw place="bottom" type="sig">A 3</fw> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Zwey-</hi> </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0027]
Erſtes Buch, erſtes Capitel.
dem Weiſen des Seneca zeigen werden, ſo halten wir
fuͤr wahrſcheinlicher, daß ſeine Seele von der Art der-
jenigen geweſen ſey, welche dem Vergnuͤgen immer of-
fen ſtehen, und bey denen eine einzige angenehme Em-
pfindung hinlaͤnglich iſt, ſie alles vergangnen und kuͤnf-
tigen Kummers vergeſſen zu machen. Eine Oefnung
des Waldes zwiſchen zween Bergen zeigte ihm von fern
die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als
dieſen Anblik, um die Empfindung ſeiner widrigen Um-
ſtaͤnde zu unterbrechen. Er uͤberließ ſich der Begeiſte-
rung, worinn dieſes majeſtaͤtiſche Schauſpiel empfindli-
che Seelen zu ſezen pflegt, ohne eine lange Zeit ſich
ſeiner dringendſten Beduͤrfniſſe zu erinnern. Endlich
wekte ihn doch das Rauſchen einer Quelle, die nicht
weit von ihm aus einem Felſen hervor ſprudelte, aus
dem angenehmen Staunen, worinn er etliche Minu-
ten ſich ſelbſt vergeſſen hatte; er ſtand auf, und ſchoͤpfte
mit der holen Hand von dieſem Waſſer, deſſen flieſſenden
Criſtall, ſeiner Einbildung nach, eine wohlthaͤtige Nymphe
ſeinen Durſt zu ſtillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen
goß; und anſtatt die von Cypriſchem Wein ſprudelnde Be-
cher der Atheniſchen Gaſtmaͤler zu vermiſſen, daͤuchte
ihm, daß er niemals angenehmer getrunken habe. Er
legte ſich hierauf wieder nieder, entſchlief unter dem ſanft-
betaͤubenden Gemurmel der Quelle, und traͤumte, daß er
ſeine geliebte Pſyche wieder gefunden habe, deren Verluſt
das einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seuf-
zer auspreßte.
Zwey-
A 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |