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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Erstes Buch, zweytes Capitel.
den dämmernden Schatten hob, begünstigte sein Unter-
nehmen. Das Getümmel nahm immer zu, je näher
er dem Rüken des Berges kam; er unterschied izt den
Schall von Trummeln und das Flüstern regelloser Flö-
ten, und fieng an zu errathen, was dieser Lerm zu be-
deuten haben möchte; als sich ihm plözlich ein Schau-
spiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den
Weisen, dessen wir oben erwähnet haben, selbst seiner
eingebildeten Göttlichkeit vergessen zu machen. Ein
schwärmender Haufen von jungen Thracischen Weibern
war es, welche von der Orphischen Wuth begeistert,
sich in dieser Nacht versammelt hatten, die unsinnigen
Gebräuche zu begehen, die das heidnische Alterthum
zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus
Jndien eingesezt hatte. Ohne Zweifel könnte eine aus-
schweifende Einbildungskraft, oder der Griffel eines la
Fage von einer solchen Scene ein ziemlich verführerisches
Gemählde machen; allein die Eindrüke die der würk-
liche Anblik auf unsern jungen Helden machte, waren
nichts weniger als von der reizenden Art. Das stür-
misch fliegende Haar, die rollenden Augen, die be-
schäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln,
die wilden Gebehrden und die rasende Fröhlichkeit, mit
der diese Unsinnigen in frechen Stellungen, ihre mit zah-
men Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre
Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne
Dithyramben mit lallender Zunge stammelten; alle
diese Ausbrüche einer fanatischen Wuth, die ihm nur

desto
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Erſtes Buch, zweytes Capitel.
den daͤmmernden Schatten hob, beguͤnſtigte ſein Unter-
nehmen. Das Getuͤmmel nahm immer zu, je naͤher
er dem Ruͤken des Berges kam; er unterſchied izt den
Schall von Trummeln und das Fluͤſtern regelloſer Floͤ-
ten, und fieng an zu errathen, was dieſer Lerm zu be-
deuten haben moͤchte; als ſich ihm ploͤzlich ein Schau-
ſpiel darſtellte, welches faͤhig ſcheinen koͤnnte, den
Weiſen, deſſen wir oben erwaͤhnet haben, ſelbſt ſeiner
eingebildeten Goͤttlichkeit vergeſſen zu machen. Ein
ſchwaͤrmender Haufen von jungen Thraciſchen Weibern
war es, welche von der Orphiſchen Wuth begeiſtert,
ſich in dieſer Nacht verſammelt hatten, die unſinnigen
Gebraͤuche zu begehen, die das heidniſche Alterthum
zum Andenken des beruͤhmten Zuges des Bacchus aus
Jndien eingeſezt hatte. Ohne Zweifel koͤnnte eine aus-
ſchweifende Einbildungskraft, oder der Griffel eines la
Fage von einer ſolchen Scene ein ziemlich verfuͤhreriſches
Gemaͤhlde machen; allein die Eindruͤke die der wuͤrk-
liche Anblik auf unſern jungen Helden machte, waren
nichts weniger als von der reizenden Art. Das ſtuͤr-
miſch fliegende Haar, die rollenden Augen, die be-
ſchaͤumten Lippen und die aufgeſchwollnen Muskeln,
die wilden Gebehrden und die raſende Froͤhlichkeit, mit
der dieſe Unſinnigen in frechen Stellungen, ihre mit zah-
men Schlangen umwundnen Thyrſos ſchuͤttelten, ihre
Klapperbleche zuſammen ſchlugen, oder abgebrochne
Dithyramben mit lallender Zunge ſtammelten; alle
dieſe Ausbruͤche einer fanatiſchen Wuth, die ihm nur

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[7/0029] Erſtes Buch, zweytes Capitel. den daͤmmernden Schatten hob, beguͤnſtigte ſein Unter- nehmen. Das Getuͤmmel nahm immer zu, je naͤher er dem Ruͤken des Berges kam; er unterſchied izt den Schall von Trummeln und das Fluͤſtern regelloſer Floͤ- ten, und fieng an zu errathen, was dieſer Lerm zu be- deuten haben moͤchte; als ſich ihm ploͤzlich ein Schau- ſpiel darſtellte, welches faͤhig ſcheinen koͤnnte, den Weiſen, deſſen wir oben erwaͤhnet haben, ſelbſt ſeiner eingebildeten Goͤttlichkeit vergeſſen zu machen. Ein ſchwaͤrmender Haufen von jungen Thraciſchen Weibern war es, welche von der Orphiſchen Wuth begeiſtert, ſich in dieſer Nacht verſammelt hatten, die unſinnigen Gebraͤuche zu begehen, die das heidniſche Alterthum zum Andenken des beruͤhmten Zuges des Bacchus aus Jndien eingeſezt hatte. Ohne Zweifel koͤnnte eine aus- ſchweifende Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer ſolchen Scene ein ziemlich verfuͤhreriſches Gemaͤhlde machen; allein die Eindruͤke die der wuͤrk- liche Anblik auf unſern jungen Helden machte, waren nichts weniger als von der reizenden Art. Das ſtuͤr- miſch fliegende Haar, die rollenden Augen, die be- ſchaͤumten Lippen und die aufgeſchwollnen Muskeln, die wilden Gebehrden und die raſende Froͤhlichkeit, mit der dieſe Unſinnigen in frechen Stellungen, ihre mit zah- men Schlangen umwundnen Thyrſos ſchuͤttelten, ihre Klapperbleche zuſammen ſchlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit lallender Zunge ſtammelten; alle dieſe Ausbruͤche einer fanatiſchen Wuth, die ihm nur deſto A 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/29>, abgerufen am 21.11.2024.