Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Buch, fünftes Capitel.
eignes Bestes zur einzigen Richtschnur giebt. Alles wo-
durch ihre natürliche Freyheit eingeschränkt wird, ist
die Beobachtung einer nüzlichen Klugheit, die ihnen vor-
schreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und
die Auszierung zu geben, wodurch sie denjenigen, mit
welchen sie zu thun haben, am gefälligsten werden. Das
moralische Schöne ist für unsre Handlungen eben das,
was der Puz für unsern Leib; und es ist eben so nö-
thig, seine Aufführung nach den Vorurtheilen und dem
Geschmak derjenigen zu modeln, mit denen man lebt,
als es nöthig ist sich so zu kleiden wie sie. Ein Mensch,
der nach einem gewissen besondern Modell gebildet wor-
den, sollte, wie die wandelnden Bildsäulen des Däda-
lus, an seinen väterlichen Boden angefesselt werden;
denn er ist nirgends an seinem Plaz als unter seines
gleichen. Ein Spartaner würde sich nicht besser schi-
ken, die Rolle eines obersten Sclaven des Artaxerxes zu
spielen, als ein Sarmater sich schikte Polemarchus zu
Athen zu seyn. Der Weise hingegen ist der allgemeine
Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstände, alle
Verfassungen und Stellungen anstehen, und er ist es eben
darum, weil er keine besondre Vorurtheile und Leidenschaf-
ten hat, weil er nichts als ein Mensch ist. Er gefällt al-
lenthalben, weil er, wohin er kommt, sich die Vor-
urtheile und Thorheiten gefallen läßt, die er antrift.
Wie sollte er nicht geliebt werden, er, der immer be-
reit ist sich für die Vortheile andrer zu beeyfern, ihre
Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln?
Er weiß, daß die Menschen von nichts überzeugter sind,

als
H 4

Drittes Buch, fuͤnftes Capitel.
eignes Beſtes zur einzigen Richtſchnur giebt. Alles wo-
durch ihre natuͤrliche Freyheit eingeſchraͤnkt wird, iſt
die Beobachtung einer nuͤzlichen Klugheit, die ihnen vor-
ſchreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und
die Auszierung zu geben, wodurch ſie denjenigen, mit
welchen ſie zu thun haben, am gefaͤlligſten werden. Das
moraliſche Schoͤne iſt fuͤr unſre Handlungen eben das,
was der Puz fuͤr unſern Leib; und es iſt eben ſo noͤ-
thig, ſeine Auffuͤhrung nach den Vorurtheilen und dem
Geſchmak derjenigen zu modeln, mit denen man lebt,
als es noͤthig iſt ſich ſo zu kleiden wie ſie. Ein Menſch,
der nach einem gewiſſen beſondern Modell gebildet wor-
den, ſollte, wie die wandelnden Bildſaͤulen des Daͤda-
lus, an ſeinen vaͤterlichen Boden angefeſſelt werden;
denn er iſt nirgends an ſeinem Plaz als unter ſeines
gleichen. Ein Spartaner wuͤrde ſich nicht beſſer ſchi-
ken, die Rolle eines oberſten Sclaven des Artaxerxes zu
ſpielen, als ein Sarmater ſich ſchikte Polemarchus zu
Athen zu ſeyn. Der Weiſe hingegen iſt der allgemeine
Menſch, der Menſch, dem alle Farben, alle Umſtaͤnde, alle
Verfaſſungen und Stellungen anſtehen, und er iſt es eben
darum, weil er keine beſondre Vorurtheile und Leidenſchaf-
ten hat, weil er nichts als ein Menſch iſt. Er gefaͤllt al-
lenthalben, weil er, wohin er kommt, ſich die Vor-
urtheile und Thorheiten gefallen laͤßt, die er antrift.
Wie ſollte er nicht geliebt werden, er, der immer be-
reit iſt ſich fuͤr die Vortheile andrer zu beeyfern, ihre
Begriffe zu billigen, ihren Leidenſchaften zu ſchmeicheln?
Er weiß, daß die Menſchen von nichts uͤberzeugter ſind,

als
H 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0141" n="119"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Drittes Buch, fu&#x0364;nftes Capitel.</hi></fw><lb/>
eignes Be&#x017F;tes zur einzigen Richt&#x017F;chnur giebt. Alles wo-<lb/>
durch ihre natu&#x0364;rliche Freyheit einge&#x017F;chra&#x0364;nkt wird, i&#x017F;t<lb/>
die Beobachtung einer nu&#x0364;zlichen Klugheit, die ihnen vor-<lb/>
&#x017F;chreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und<lb/>
die Auszierung zu geben, wodurch &#x017F;ie denjenigen, mit<lb/>
welchen &#x017F;ie zu thun haben, am gefa&#x0364;llig&#x017F;ten werden. Das<lb/>
morali&#x017F;che Scho&#x0364;ne i&#x017F;t fu&#x0364;r un&#x017F;re Handlungen eben das,<lb/>
was der Puz fu&#x0364;r un&#x017F;ern Leib; und es i&#x017F;t eben &#x017F;o no&#x0364;-<lb/>
thig, &#x017F;eine Auffu&#x0364;hrung nach den Vorurtheilen und dem<lb/>
Ge&#x017F;chmak derjenigen zu modeln, mit denen man lebt,<lb/>
als es no&#x0364;thig i&#x017F;t &#x017F;ich &#x017F;o zu kleiden wie &#x017F;ie. Ein Men&#x017F;ch,<lb/>
der nach einem gewi&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;ondern Modell gebildet wor-<lb/>
den, &#x017F;ollte, wie die wandelnden Bild&#x017F;a&#x0364;ulen des Da&#x0364;da-<lb/>
lus, an &#x017F;einen va&#x0364;terlichen Boden angefe&#x017F;&#x017F;elt werden;<lb/>
denn er i&#x017F;t nirgends an &#x017F;einem Plaz als unter &#x017F;eines<lb/>
gleichen. Ein Spartaner wu&#x0364;rde &#x017F;ich nicht be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chi-<lb/>
ken, die Rolle eines ober&#x017F;ten Sclaven des Artaxerxes zu<lb/>
&#x017F;pielen, als ein Sarmater &#x017F;ich &#x017F;chikte Polemarchus zu<lb/>
Athen zu &#x017F;eyn. Der Wei&#x017F;e hingegen i&#x017F;t der allgemeine<lb/>
Men&#x017F;ch, der Men&#x017F;ch, dem alle Farben, alle Um&#x017F;ta&#x0364;nde, alle<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ungen und Stellungen an&#x017F;tehen, und er i&#x017F;t es eben<lb/>
darum, weil er keine be&#x017F;ondre Vorurtheile und Leiden&#x017F;chaf-<lb/>
ten hat, weil er nichts als ein Men&#x017F;ch i&#x017F;t. Er gefa&#x0364;llt al-<lb/>
lenthalben, weil er, wohin er kommt, &#x017F;ich die Vor-<lb/>
urtheile und Thorheiten gefallen la&#x0364;ßt, die er antrift.<lb/>
Wie &#x017F;ollte er nicht geliebt werden, er, der immer be-<lb/>
reit i&#x017F;t &#x017F;ich fu&#x0364;r die Vortheile andrer zu beeyfern, ihre<lb/>
Begriffe zu billigen, ihren Leiden&#x017F;chaften zu &#x017F;chmeicheln?<lb/>
Er weiß, daß die Men&#x017F;chen von nichts u&#x0364;berzeugter &#x017F;ind,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 4</fw><fw place="bottom" type="catch">als</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0141] Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. eignes Beſtes zur einzigen Richtſchnur giebt. Alles wo- durch ihre natuͤrliche Freyheit eingeſchraͤnkt wird, iſt die Beobachtung einer nuͤzlichen Klugheit, die ihnen vor- ſchreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die Auszierung zu geben, wodurch ſie denjenigen, mit welchen ſie zu thun haben, am gefaͤlligſten werden. Das moraliſche Schoͤne iſt fuͤr unſre Handlungen eben das, was der Puz fuͤr unſern Leib; und es iſt eben ſo noͤ- thig, ſeine Auffuͤhrung nach den Vorurtheilen und dem Geſchmak derjenigen zu modeln, mit denen man lebt, als es noͤthig iſt ſich ſo zu kleiden wie ſie. Ein Menſch, der nach einem gewiſſen beſondern Modell gebildet wor- den, ſollte, wie die wandelnden Bildſaͤulen des Daͤda- lus, an ſeinen vaͤterlichen Boden angefeſſelt werden; denn er iſt nirgends an ſeinem Plaz als unter ſeines gleichen. Ein Spartaner wuͤrde ſich nicht beſſer ſchi- ken, die Rolle eines oberſten Sclaven des Artaxerxes zu ſpielen, als ein Sarmater ſich ſchikte Polemarchus zu Athen zu ſeyn. Der Weiſe hingegen iſt der allgemeine Menſch, der Menſch, dem alle Farben, alle Umſtaͤnde, alle Verfaſſungen und Stellungen anſtehen, und er iſt es eben darum, weil er keine beſondre Vorurtheile und Leidenſchaf- ten hat, weil er nichts als ein Menſch iſt. Er gefaͤllt al- lenthalben, weil er, wohin er kommt, ſich die Vor- urtheile und Thorheiten gefallen laͤßt, die er antrift. Wie ſollte er nicht geliebt werden, er, der immer be- reit iſt ſich fuͤr die Vortheile andrer zu beeyfern, ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenſchaften zu ſchmeicheln? Er weiß, daß die Menſchen von nichts uͤberzeugter ſind, als H 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/141
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/141>, abgerufen am 23.11.2024.