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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
mit demjenigen, für den die Künste des Wizes und des
Geschmaks die angenehmste Art der Bedürfnisse der Na-
tur zu geniessen, und eine unendliche Menge von Er-
gözungen der Sinne und der Einbildung erfunden ha-
ben, wovon die Natur in dem rohen Zustande, wo-
rinn wir sie uns in den ältesten Zeiten vorstellen, kei-
nen Begriff hat. Diese Vergleichung, es ist wahr, fin-
det nur in dem Stand einer Gesellschaft statt, die sich
in einer langen Reyhe von Jahrhunderten endlich zu
einem gewissen Grade der Vollkommen heit erhoben hat.
Jn einem solchen aber wird alles das zum Bedürfniß,
was der Wilde nur darum nicht vermisset, weil es ihm
unbekannt ist; und ein Diogenes könnte zu Corinth
nicht glüklich seyn, wenn er nicht ein Narr wäre.
Gewisse poetische Köpfe haben sich ein goldnes Alter,
ein Arcadien, ein angenehmes Hirtenleben geträumt,
welches zwischen der rohen Natur und der Lebensart
des begüterten Theils eines gesitteten und sinnreichen
Volkes das Mittel halten soll. Sie haben die verschö-
nerte Natur von allem demjenigen entkleidet, wodurch
sie verschönert worden ist, und dieses idealische Wesen
die schöne Natur genannt. Allein ausserdem, daß diese
schöne Natur, in dieser nakten Einfalt, welche man
ihr giebt, niemals irgendwo vorhanden war; wer sie-
het nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der
Dichter, zu derjenigen, welche durch die Künste mit
allem bereichert und ausgeziert worden, was der Wiz
zu erfinden fähig ist, um uns in den Armen einer un-
unterbrochnen Wollust, vor dem Ueberdruß der Sät-

tigung

Agathon.
mit demjenigen, fuͤr den die Kuͤnſte des Wizes und des
Geſchmaks die angenehmſte Art der Beduͤrfniſſe der Na-
tur zu genieſſen, und eine unendliche Menge von Er-
goͤzungen der Sinne und der Einbildung erfunden ha-
ben, wovon die Natur in dem rohen Zuſtande, wo-
rinn wir ſie uns in den aͤlteſten Zeiten vorſtellen, kei-
nen Begriff hat. Dieſe Vergleichung, es iſt wahr, fin-
det nur in dem Stand einer Geſellſchaft ſtatt, die ſich
in einer langen Reyhe von Jahrhunderten endlich zu
einem gewiſſen Grade der Vollkommen heit erhoben hat.
Jn einem ſolchen aber wird alles das zum Beduͤrfniß,
was der Wilde nur darum nicht vermiſſet, weil es ihm
unbekannt iſt; und ein Diogenes koͤnnte zu Corinth
nicht gluͤklich ſeyn, wenn er nicht ein Narr waͤre.
Gewiſſe poetiſche Koͤpfe haben ſich ein goldnes Alter,
ein Arcadien, ein angenehmes Hirtenleben getraͤumt,
welches zwiſchen der rohen Natur und der Lebensart
des beguͤterten Theils eines geſitteten und ſinnreichen
Volkes das Mittel halten ſoll. Sie haben die verſchoͤ-
nerte Natur von allem demjenigen entkleidet, wodurch
ſie verſchoͤnert worden iſt, und dieſes idealiſche Weſen
die ſchoͤne Natur genannt. Allein auſſerdem, daß dieſe
ſchoͤne Natur, in dieſer nakten Einfalt, welche man
ihr giebt, niemals irgendwo vorhanden war; wer ſie-
het nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der
Dichter, zu derjenigen, welche durch die Kuͤnſte mit
allem bereichert und ausgeziert worden, was der Wiz
zu erfinden faͤhig iſt, um uns in den Armen einer un-
unterbrochnen Wolluſt, vor dem Ueberdruß der Saͤt-

tigung
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[92/0114] Agathon. mit demjenigen, fuͤr den die Kuͤnſte des Wizes und des Geſchmaks die angenehmſte Art der Beduͤrfniſſe der Na- tur zu genieſſen, und eine unendliche Menge von Er- goͤzungen der Sinne und der Einbildung erfunden ha- ben, wovon die Natur in dem rohen Zuſtande, wo- rinn wir ſie uns in den aͤlteſten Zeiten vorſtellen, kei- nen Begriff hat. Dieſe Vergleichung, es iſt wahr, fin- det nur in dem Stand einer Geſellſchaft ſtatt, die ſich in einer langen Reyhe von Jahrhunderten endlich zu einem gewiſſen Grade der Vollkommen heit erhoben hat. Jn einem ſolchen aber wird alles das zum Beduͤrfniß, was der Wilde nur darum nicht vermiſſet, weil es ihm unbekannt iſt; und ein Diogenes koͤnnte zu Corinth nicht gluͤklich ſeyn, wenn er nicht ein Narr waͤre. Gewiſſe poetiſche Koͤpfe haben ſich ein goldnes Alter, ein Arcadien, ein angenehmes Hirtenleben getraͤumt, welches zwiſchen der rohen Natur und der Lebensart des beguͤterten Theils eines geſitteten und ſinnreichen Volkes das Mittel halten ſoll. Sie haben die verſchoͤ- nerte Natur von allem demjenigen entkleidet, wodurch ſie verſchoͤnert worden iſt, und dieſes idealiſche Weſen die ſchoͤne Natur genannt. Allein auſſerdem, daß dieſe ſchoͤne Natur, in dieſer nakten Einfalt, welche man ihr giebt, niemals irgendwo vorhanden war; wer ſie- het nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der Dichter, zu derjenigen, welche durch die Kuͤnſte mit allem bereichert und ausgeziert worden, was der Wiz zu erfinden faͤhig iſt, um uns in den Armen einer un- unterbrochnen Wolluſt, vor dem Ueberdruß der Saͤt- tigung

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/114>, abgerufen am 23.11.2024.