Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Stube, die Frau saß am Spinnrocken, und die Kinder hockten am warmen Ofen. Er zog den Pelz ab und sah zu, wie Grita die Tücher vom Kopf wickelte und die Röcke in Ordnung brachte. Jetzt erst sollte ihm wieder das liebe Gesicht erscheinen, nach dem er sich so lange gebangt hatte; aber er erschrak fast, als sie dicht vor ihn trat -- es war das liebe freundliche Gesicht nicht mehr. Er hätte sich einbilden können, viele Jahre lang fortgewesen zu sein, so gealtert sah es aus. Die Wangen waren eingefallen und die Augen blau umrändert, und eine grämliche Falte hatte sich in die Stirn gedrückt. Bist du krank gewesen, Grita? fragte er bestürzt. Sie schüttelte den Kopf. Er nahm das goldene Kreuz vor, das er ihr mitgebracht hatte, wickelte es aus dem Papier und reichte es ihr. Ach--! rief sie, offenbar freudig überrascht, und das Gesicht erheiterte sich plötzlich. Sie lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, an dem sie ihm gegenüber gestanden hatte, hielt das Kreuz unter das Licht und beugte sich darüber, es genauer zu betrachten. Die Steine funkelten aus dem Golde vor, und ihre Augen blitzten munter. Aber dann schien wieder eine trübe Vorstellung ihre Gedanken abzulenken. Wie man den Schatten einer Wolke über ein sonniges Getreidefeld ziehen sieht, so verlor sich auch von ihrem Gesicht der Sonnenschein. Sie drückte einen Kuß auf das Kreuz, und als sie sich Stube, die Frau saß am Spinnrocken, und die Kinder hockten am warmen Ofen. Er zog den Pelz ab und sah zu, wie Grita die Tücher vom Kopf wickelte und die Röcke in Ordnung brachte. Jetzt erst sollte ihm wieder das liebe Gesicht erscheinen, nach dem er sich so lange gebangt hatte; aber er erschrak fast, als sie dicht vor ihn trat — es war das liebe freundliche Gesicht nicht mehr. Er hätte sich einbilden können, viele Jahre lang fortgewesen zu sein, so gealtert sah es aus. Die Wangen waren eingefallen und die Augen blau umrändert, und eine grämliche Falte hatte sich in die Stirn gedrückt. Bist du krank gewesen, Grita? fragte er bestürzt. Sie schüttelte den Kopf. Er nahm das goldene Kreuz vor, das er ihr mitgebracht hatte, wickelte es aus dem Papier und reichte es ihr. Ach—! rief sie, offenbar freudig überrascht, und das Gesicht erheiterte sich plötzlich. Sie lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, an dem sie ihm gegenüber gestanden hatte, hielt das Kreuz unter das Licht und beugte sich darüber, es genauer zu betrachten. Die Steine funkelten aus dem Golde vor, und ihre Augen blitzten munter. Aber dann schien wieder eine trübe Vorstellung ihre Gedanken abzulenken. Wie man den Schatten einer Wolke über ein sonniges Getreidefeld ziehen sieht, so verlor sich auch von ihrem Gesicht der Sonnenschein. Sie drückte einen Kuß auf das Kreuz, und als sie sich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0088"/> Stube, die Frau saß am Spinnrocken, und die Kinder hockten am warmen Ofen. Er zog den Pelz ab und sah zu, wie Grita die Tücher vom Kopf wickelte und die Röcke in Ordnung brachte. Jetzt erst sollte ihm wieder das liebe Gesicht erscheinen, nach dem er sich so lange gebangt hatte; aber er erschrak fast, als sie dicht vor ihn trat — es war das liebe freundliche Gesicht nicht mehr. Er hätte sich einbilden können, viele Jahre lang fortgewesen zu sein, so gealtert sah es aus. Die Wangen waren eingefallen und die Augen blau umrändert, und eine grämliche Falte hatte sich in die Stirn gedrückt. Bist du krank gewesen, Grita? fragte er bestürzt. Sie schüttelte den Kopf.</p><lb/> <p>Er nahm das goldene Kreuz vor, das er ihr mitgebracht hatte, wickelte es aus dem Papier und reichte es ihr. Ach—! rief sie, offenbar freudig überrascht, und das Gesicht erheiterte sich plötzlich. Sie lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, an dem sie ihm gegenüber gestanden hatte, hielt das Kreuz unter das Licht und beugte sich darüber, es genauer zu betrachten. Die Steine funkelten aus dem Golde vor, und ihre Augen blitzten munter. Aber dann schien wieder eine trübe Vorstellung ihre Gedanken abzulenken. Wie man den Schatten einer Wolke über ein sonniges Getreidefeld ziehen sieht, so verlor sich auch von ihrem Gesicht der Sonnenschein. Sie drückte einen Kuß auf das Kreuz, und als sie sich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0088]
Stube, die Frau saß am Spinnrocken, und die Kinder hockten am warmen Ofen. Er zog den Pelz ab und sah zu, wie Grita die Tücher vom Kopf wickelte und die Röcke in Ordnung brachte. Jetzt erst sollte ihm wieder das liebe Gesicht erscheinen, nach dem er sich so lange gebangt hatte; aber er erschrak fast, als sie dicht vor ihn trat — es war das liebe freundliche Gesicht nicht mehr. Er hätte sich einbilden können, viele Jahre lang fortgewesen zu sein, so gealtert sah es aus. Die Wangen waren eingefallen und die Augen blau umrändert, und eine grämliche Falte hatte sich in die Stirn gedrückt. Bist du krank gewesen, Grita? fragte er bestürzt. Sie schüttelte den Kopf.
Er nahm das goldene Kreuz vor, das er ihr mitgebracht hatte, wickelte es aus dem Papier und reichte es ihr. Ach—! rief sie, offenbar freudig überrascht, und das Gesicht erheiterte sich plötzlich. Sie lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, an dem sie ihm gegenüber gestanden hatte, hielt das Kreuz unter das Licht und beugte sich darüber, es genauer zu betrachten. Die Steine funkelten aus dem Golde vor, und ihre Augen blitzten munter. Aber dann schien wieder eine trübe Vorstellung ihre Gedanken abzulenken. Wie man den Schatten einer Wolke über ein sonniges Getreidefeld ziehen sieht, so verlor sich auch von ihrem Gesicht der Sonnenschein. Sie drückte einen Kuß auf das Kreuz, und als sie sich
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Zitationshilfe: | Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wichert_grita_1910/88>, abgerufen am 18.07.2024. |