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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sonst! sie wurde überwältigt: man riß ihr
die Kleider ab, man entblößte sie, und sie,
die leidende Unschuldige, stand, wie die Bild-
säule der Geduld auf einem Monumente, mit
bethräntem Gesichte und versteinertem Blicke
da, um den Höhnereyen der Unsinnigen zum
Ziele zu dienen. Sie gieng verwildert hin-
weg und gerieth in eine Verrückung, von
welcher sie, bis an ihren Tod, zuweilen
Rückfälle spürte. Zween Tage lang irrte sie
zerstreut und ohne Besonnenheit im Hause
herum, seufzte und sprach kein Wort; end-
lich warf sie in einem Anfalle von Raserey
in der Nacht verzweiflungsvoll alle Bande
der Mutterliebe von sich, vergaß sich selbst
und entfloh, ohne bemerkt zu werden. Doch
bey aller Verwirrung führte ihr das Ge-
dächtniß mein Andenken zurück: sie fühlte
in sich selbst, daß sie ehmals für mich em-
pfunden: ihre verunglückte Liebe suchte in
der meinigen Trost, und sie floh zu mir.
In dem eutsetzlichsten Zustande der Verwil-
derung, mit herumhängenden Haaren, ro-
then aufgeschwollnen Augenliedern, in offner
flatternder Kleidung, mit bloßen Füßen kam
sie in dem fürchterlichsten Regenwetter eines

Abends

ſonſt! ſie wurde uͤberwaͤltigt: man riß ihr
die Kleider ab, man entbloͤßte ſie, und ſie,
die leidende Unſchuldige, ſtand, wie die Bild-
ſaͤule der Geduld auf einem Monumente, mit
bethraͤntem Geſichte und verſteinertem Blicke
da, um den Hoͤhnereyen der Unſinnigen zum
Ziele zu dienen. Sie gieng verwildert hin-
weg und gerieth in eine Verruͤckung, von
welcher ſie, bis an ihren Tod, zuweilen
Ruͤckfaͤlle ſpuͤrte. Zween Tage lang irrte ſie
zerſtreut und ohne Beſonnenheit im Hauſe
herum, ſeufzte und ſprach kein Wort; end-
lich warf ſie in einem Anfalle von Raſerey
in der Nacht verzweiflungsvoll alle Bande
der Mutterliebe von ſich, vergaß ſich ſelbſt
und entfloh, ohne bemerkt zu werden. Doch
bey aller Verwirrung fuͤhrte ihr das Ge-
daͤchtniß mein Andenken zuruͤck: ſie fuͤhlte
in ſich ſelbſt, daß ſie ehmals fuͤr mich em-
pfunden: ihre verungluͤckte Liebe ſuchte in
der meinigen Troſt, und ſie floh zu mir.
In dem eutſetzlichſten Zuſtande der Verwil-
derung, mit herumhaͤngenden Haaren, ro-
then aufgeſchwollnen Augenliedern, in offner
flatternder Kleidung, mit bloßen Fuͤßen kam
ſie in dem fuͤrchterlichſten Regenwetter eines

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[90/0096] ſonſt! ſie wurde uͤberwaͤltigt: man riß ihr die Kleider ab, man entbloͤßte ſie, und ſie, die leidende Unſchuldige, ſtand, wie die Bild- ſaͤule der Geduld auf einem Monumente, mit bethraͤntem Geſichte und verſteinertem Blicke da, um den Hoͤhnereyen der Unſinnigen zum Ziele zu dienen. Sie gieng verwildert hin- weg und gerieth in eine Verruͤckung, von welcher ſie, bis an ihren Tod, zuweilen Ruͤckfaͤlle ſpuͤrte. Zween Tage lang irrte ſie zerſtreut und ohne Beſonnenheit im Hauſe herum, ſeufzte und ſprach kein Wort; end- lich warf ſie in einem Anfalle von Raſerey in der Nacht verzweiflungsvoll alle Bande der Mutterliebe von ſich, vergaß ſich ſelbſt und entfloh, ohne bemerkt zu werden. Doch bey aller Verwirrung fuͤhrte ihr das Ge- daͤchtniß mein Andenken zuruͤck: ſie fuͤhlte in ſich ſelbſt, daß ſie ehmals fuͤr mich em- pfunden: ihre verungluͤckte Liebe ſuchte in der meinigen Troſt, und ſie floh zu mir. In dem eutſetzlichſten Zuſtande der Verwil- derung, mit herumhaͤngenden Haaren, ro- then aufgeſchwollnen Augenliedern, in offner flatternder Kleidung, mit bloßen Fuͤßen kam ſie in dem fuͤrchterlichſten Regenwetter eines Abends

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Zitationshilfe: Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/96>, abgerufen am 06.05.2024.