Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

Abends auf meine Stube, als ich tiefsinnig
über Mittel, sie zu retten, nachdachte. Sie
fiel auf die Kniee, sie flehte mich um meinen
Beystand an: ich erkannte sie nicht, so sehr
war sie entstellt, und so wenig ließ mich die
Betäubung des Schreckens meine Sinne ge-
brauchen. Sie stürmte, wie unsinnig, auf
mich los; und noch kannte ich sie nicht, bis
sie ihren Namen nennte, bis sie an meine
Liebe mich erinnerte -- da erwachte ich,
aber nur wenige Augenblicke, um desto län-
ger mit allen meinen Kräften niederzusinken.
Ihr Bild erschütterte mich bis in das Mark;
in einer todtenähnlichen Fühllosigkeit saß
ich da: ich glaube, wir wären zu Monu-
menten unsers eignen Kummers versteinert,
wenn uns nicht mein Nachbar, der neben
meiner Stube wohnte und über die Stille,
die so plötzlich das lauteste Wehklagen un-
terbrach, erstaunt war, durch seine Dazwi-
schenkunft getrennt hätte. Er hatte Kalt-
blütigkeit genug, unsrer Sinnlosigkeit durch
gesunde Ueberlegung zu Hülfe zu kommen:
er schlug der unglücklichen Entlaufnen einen
Zufluchtsort vor, wo sie weder Mann noch
Gesetze wiederfinden sollten.

Es ge-

Abends auf meine Stube, als ich tiefſinnig
uͤber Mittel, ſie zu retten, nachdachte. Sie
fiel auf die Kniee, ſie flehte mich um meinen
Beyſtand an: ich erkannte ſie nicht, ſo ſehr
war ſie entſtellt, und ſo wenig ließ mich die
Betaͤubung des Schreckens meine Sinne ge-
brauchen. Sie ſtuͤrmte, wie unſinnig, auf
mich los; und noch kannte ich ſie nicht, bis
ſie ihren Namen nennte, bis ſie an meine
Liebe mich erinnerte — da erwachte ich,
aber nur wenige Augenblicke, um deſto laͤn-
ger mit allen meinen Kraͤften niederzuſinken.
Ihr Bild erſchuͤtterte mich bis in das Mark;
in einer todtenaͤhnlichen Fuͤhlloſigkeit ſaß
ich da: ich glaube, wir waͤren zu Monu-
menten unſers eignen Kummers verſteinert,
wenn uns nicht mein Nachbar, der neben
meiner Stube wohnte und uͤber die Stille,
die ſo ploͤtzlich das lauteſte Wehklagen un-
terbrach, erſtaunt war, durch ſeine Dazwi-
ſchenkunft getrennt haͤtte. Er hatte Kalt-
bluͤtigkeit genug, unſrer Sinnloſigkeit durch
geſunde Ueberlegung zu Huͤlfe zu kommen:
er ſchlug der ungluͤcklichen Entlaufnen einen
Zufluchtsort vor, wo ſie weder Mann noch
Geſetze wiederfinden ſollten.

Es ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0097" n="91"/>
Abends auf meine Stube, als ich tief<choice><sic>fl</sic><corr>&#x017F;i</corr></choice>nnig<lb/>
u&#x0364;ber Mittel, &#x017F;ie zu retten, nachdachte. Sie<lb/>
fiel auf die Kniee, &#x017F;ie flehte mich um meinen<lb/>
Bey&#x017F;tand an: ich erkannte &#x017F;ie nicht, &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
war &#x017F;ie ent&#x017F;tellt, und &#x017F;o wenig ließ mich die<lb/>
Beta&#x0364;ubung des Schreckens meine Sinne ge-<lb/>
brauchen. Sie &#x017F;tu&#x0364;rmte, wie un&#x017F;innig, auf<lb/>
mich los; und noch kannte ich &#x017F;ie nicht, bis<lb/>
&#x017F;ie ihren Namen nennte, bis &#x017F;ie an meine<lb/>
Liebe mich erinnerte &#x2014; da erwachte ich,<lb/>
aber nur wenige Augenblicke, um de&#x017F;to la&#x0364;n-<lb/>
ger mit allen meinen Kra&#x0364;ften niederzu&#x017F;inken.<lb/>
Ihr Bild er&#x017F;chu&#x0364;tterte mich bis in das Mark;<lb/>
in einer todtena&#x0364;hnlichen Fu&#x0364;hllo&#x017F;igkeit &#x017F;<lb/>
ich da: ich glaube, wir wa&#x0364;ren zu Monu-<lb/>
menten un&#x017F;ers eignen Kummers ver&#x017F;teinert,<lb/>
wenn uns nicht mein Nachbar, der neben<lb/>
meiner Stube wohnte und u&#x0364;ber die Stille,<lb/>
die &#x017F;o plo&#x0364;tzlich das laute&#x017F;te Wehklagen un-<lb/>
terbrach, er&#x017F;taunt war, durch &#x017F;eine Dazwi-<lb/>
&#x017F;chenkunft getrennt ha&#x0364;tte. Er hatte Kalt-<lb/>
blu&#x0364;tigkeit genug, un&#x017F;rer Sinnlo&#x017F;igkeit durch<lb/>
ge&#x017F;unde Ueberlegung zu Hu&#x0364;lfe zu kommen:<lb/>
er &#x017F;chlug der unglu&#x0364;cklichen Entlaufnen einen<lb/>
Zufluchtsort vor, wo &#x017F;ie weder Mann noch<lb/>
Ge&#x017F;etze wiederfinden &#x017F;ollten.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Es ge-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0097] Abends auf meine Stube, als ich tiefſinnig uͤber Mittel, ſie zu retten, nachdachte. Sie fiel auf die Kniee, ſie flehte mich um meinen Beyſtand an: ich erkannte ſie nicht, ſo ſehr war ſie entſtellt, und ſo wenig ließ mich die Betaͤubung des Schreckens meine Sinne ge- brauchen. Sie ſtuͤrmte, wie unſinnig, auf mich los; und noch kannte ich ſie nicht, bis ſie ihren Namen nennte, bis ſie an meine Liebe mich erinnerte — da erwachte ich, aber nur wenige Augenblicke, um deſto laͤn- ger mit allen meinen Kraͤften niederzuſinken. Ihr Bild erſchuͤtterte mich bis in das Mark; in einer todtenaͤhnlichen Fuͤhlloſigkeit ſaß ich da: ich glaube, wir waͤren zu Monu- menten unſers eignen Kummers verſteinert, wenn uns nicht mein Nachbar, der neben meiner Stube wohnte und uͤber die Stille, die ſo ploͤtzlich das lauteſte Wehklagen un- terbrach, erſtaunt war, durch ſeine Dazwi- ſchenkunft getrennt haͤtte. Er hatte Kalt- bluͤtigkeit genug, unſrer Sinnloſigkeit durch geſunde Ueberlegung zu Huͤlfe zu kommen: er ſchlug der ungluͤcklichen Entlaufnen einen Zufluchtsort vor, wo ſie weder Mann noch Geſetze wiederfinden ſollten. Es ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/97
Zitationshilfe: Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/97>, abgerufen am 06.05.2024.