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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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beständiger Gefahr zu seyn, daß man der
Grausamkeit eines Barbaren mit langsamen
Martern zur Belustigung und endlich gar
mit seinem Fleische zur Sättigung dienen
müsse. Die Gelegenheit zeigte sich, und
sie entflohen, versteckten sich lange Zeit, um
der Nachstellung zu entgehn, in einem Mo-
raste, und rückten, so oft sie sich sicher ge-
nug glaubten, weiter fort. Aber ihre Noth
hatte nur eine andre Mine angenommen:
der Tod drohte ihnen immer noch, nur un-
ter einer neuen Larve. Ihre Nahrung muß-
ten sie mühsam suchen und fanden sie nicht
einmal in zureichender Menge, und die Be-
schwerlichkeiten der Witterung machten ihre
traurige Situation vollständig.

Wer hätte sich in solchen Umständen nicht
den kummervollsten Reflexionen überlassen
sollen, auch ohne so viele Misanthropie, wie
Belphegor, im Leibe zu haben? -- Um so
viel mehr mußte er es thun: der Strom
seiner ärgerlichen Klagen ergoß sich von
neuem über den Menschen und die Natur.
Als er eines Morgens sein Kummerlied unter
einem Brodfruchtbaume sang, so hörte er
plözlich einige Stimmen und erschrack, wie

leicht

beſtaͤndiger Gefahr zu ſeyn, daß man der
Grauſamkeit eines Barbaren mit langſamen
Martern zur Beluſtigung und endlich gar
mit ſeinem Fleiſche zur Saͤttigung dienen
muͤſſe. Die Gelegenheit zeigte ſich, und
ſie entflohen, verſteckten ſich lange Zeit, um
der Nachſtellung zu entgehn, in einem Mo-
raſte, und ruͤckten, ſo oft ſie ſich ſicher ge-
nug glaubten, weiter fort. Aber ihre Noth
hatte nur eine andre Mine angenommen:
der Tod drohte ihnen immer noch, nur un-
ter einer neuen Larve. Ihre Nahrung muß-
ten ſie muͤhſam ſuchen und fanden ſie nicht
einmal in zureichender Menge, und die Be-
ſchwerlichkeiten der Witterung machten ihre
traurige Situation vollſtaͤndig.

Wer haͤtte ſich in ſolchen Umſtaͤnden nicht
den kummervollſten Reflexionen uͤberlaſſen
ſollen, auch ohne ſo viele Miſanthropie, wie
Belphegor, im Leibe zu haben? — Um ſo
viel mehr mußte er es thun: der Strom
ſeiner aͤrgerlichen Klagen ergoß ſich von
neuem uͤber den Menſchen und die Natur.
Als er eines Morgens ſein Kummerlied unter
einem Brodfruchtbaume ſang, ſo hoͤrte er
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[216/0222] beſtaͤndiger Gefahr zu ſeyn, daß man der Grauſamkeit eines Barbaren mit langſamen Martern zur Beluſtigung und endlich gar mit ſeinem Fleiſche zur Saͤttigung dienen muͤſſe. Die Gelegenheit zeigte ſich, und ſie entflohen, verſteckten ſich lange Zeit, um der Nachſtellung zu entgehn, in einem Mo- raſte, und ruͤckten, ſo oft ſie ſich ſicher ge- nug glaubten, weiter fort. Aber ihre Noth hatte nur eine andre Mine angenommen: der Tod drohte ihnen immer noch, nur un- ter einer neuen Larve. Ihre Nahrung muß- ten ſie muͤhſam ſuchen und fanden ſie nicht einmal in zureichender Menge, und die Be- ſchwerlichkeiten der Witterung machten ihre traurige Situation vollſtaͤndig. Wer haͤtte ſich in ſolchen Umſtaͤnden nicht den kummervollſten Reflexionen uͤberlaſſen ſollen, auch ohne ſo viele Miſanthropie, wie Belphegor, im Leibe zu haben? — Um ſo viel mehr mußte er es thun: der Strom ſeiner aͤrgerlichen Klagen ergoß ſich von neuem uͤber den Menſchen und die Natur. Als er eines Morgens ſein Kummerlied unter einem Brodfruchtbaume ſang, ſo hoͤrte er ploͤzlich einige Stimmen und erſchrack, wie leicht

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Zitationshilfe: Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/222>, abgerufen am 04.05.2024.