Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

müssen. Wir wissen es noch nicht ganz genau, in welchem
Grade andere hoch differenzirte Zellen, wie Muskel- und
Nervenzellen, demselben Schicksal unterworfen sind, aber
dass sie durch die Function abgenutzt werden, ist sehr
wahrscheinlich. Meine Hypothese besteht nun darin, dass
ich annehme, es sei der Wiederersatz der durch die Function
zu Grunde gehenden Somazellen bei jeder Art regulirt, und
zwar durch Modificationen in ihrer Constitution. Da Fort-
pflanzung so gut eine Function ist als Ernährung, so wird
auch sie von der Constitution der Zelle regulirt werden
müssen, d. h. bei gleicher Ernährung u. s. w. wird die eine
Zellenart sich rascher, die andere langsamer fortpflanzen,
der Process der Fortpflanzung wird bei der einen früher, bei
der anderen später sein Ende finden.

Die somatischen Zellen haben durch einseitige Ausbildung
für eine bestimmte Function die unbegrenzte Fortpflanzungs-
fähigkeit verloren; sie konnten einen hohen Grad der Dif-
ferenzirung annehmen, weil ihre unbegrenzte Fortpflanzungs-
fähigkeit für die Erhaltung der Art nicht mehr nöthig war.
Im Aufsatz XI heisst es p. 645: "Ich glaube, gezeigt zu
haben, dass Organe, welche nicht mehr gebraucht werden,
schon allein durch Panmixie rudimentär werden und schliess-
lich ganz schwinden müssen, nicht durch die directe Wirkung
des Nichtgebrauchs, sondern dadurch, dass Naturzüchtung
sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhält. Was
für Organe gilt, gilt ebenso auch für Functionen, denn Func-
tionen sind nur der Ausdruck einer bestimmten Beschaffen-
heit materieller Theile, mögen wir nun dieselben wahrnehmen
oder nicht. Wenn nun also die Unsterblichkeit der Ein-
zelligen darauf beruhen muss, dass ihre Substanz so zu-
sammengesetzt ist, dass der Stoffwechsel genau wieder in

müssen. Wir wissen es noch nicht ganz genau, in welchem
Grade andere hoch differenzirte Zellen, wie Muskel- und
Nervenzellen, demselben Schicksal unterworfen sind, aber
dass sie durch die Function abgenutzt werden, ist sehr
wahrscheinlich. Meine Hypothese besteht nun darin, dass
ich annehme, es sei der Wiederersatz der durch die Function
zu Grunde gehenden Somazellen bei jeder Art regulirt, und
zwar durch Modificationen in ihrer Constitution. Da Fort-
pflanzung so gut eine Function ist als Ernährung, so wird
auch sie von der Constitution der Zelle regulirt werden
müssen, d. h. bei gleicher Ernährung u. s. w. wird die eine
Zellenart sich rascher, die andere langsamer fortpflanzen,
der Process der Fortpflanzung wird bei der einen früher, bei
der anderen später sein Ende finden.

Die somatischen Zellen haben durch einseitige Ausbildung
für eine bestimmte Function die unbegrenzte Fortpflanzungs-
fähigkeit verloren; sie konnten einen hohen Grad der Dif-
ferenzirung annehmen, weil ihre unbegrenzte Fortpflanzungs-
fähigkeit für die Erhaltung der Art nicht mehr nöthig war.
Im Aufsatz XI heisst es p. 645: „Ich glaube, gezeigt zu
haben, dass Organe, welche nicht mehr gebraucht werden,
schon allein durch Panmixie rudimentär werden und schliess-
lich ganz schwinden müssen, nicht durch die directe Wirkung
des Nichtgebrauchs, sondern dadurch, dass Naturzüchtung
sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhält. Was
für Organe gilt, gilt ebenso auch für Functionen, denn Func-
tionen sind nur der Ausdruck einer bestimmten Beschaffen-
heit materieller Theile, mögen wir nun dieselben wahrnehmen
oder nicht. Wenn nun also die Unsterblichkeit der Ein-
zelligen darauf beruhen muss, dass ihre Substanz so zu-
sammengesetzt ist, dass der Stoffwechsel genau wieder in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0092" n="80"/>
müssen. Wir wissen es noch nicht ganz genau, in welchem<lb/>
Grade andere hoch differenzirte Zellen, wie Muskel- und<lb/>
Nervenzellen, demselben Schicksal unterworfen sind, aber<lb/><hi rendition="#g">dass</hi> sie durch die Function abgenutzt werden, ist sehr<lb/>
wahrscheinlich. Meine Hypothese besteht nun darin, dass<lb/>
ich annehme, es sei der Wiederersatz der durch die Function<lb/>
zu Grunde gehenden Somazellen bei jeder Art regulirt, und<lb/>
zwar durch Modificationen in ihrer Constitution. Da Fort-<lb/>
pflanzung so gut eine Function ist als Ernährung, so wird<lb/>
auch sie von der Constitution der Zelle regulirt werden<lb/>
müssen, d. h. bei gleicher Ernährung u. s. w. wird die eine<lb/>
Zellenart sich rascher, die andere langsamer fortpflanzen,<lb/>
der Process der Fortpflanzung wird bei der einen früher, bei<lb/>
der anderen später sein Ende finden.</p><lb/>
        <p>Die somatischen Zellen haben durch einseitige Ausbildung<lb/>
für eine bestimmte Function die unbegrenzte Fortpflanzungs-<lb/>
fähigkeit verloren; sie konnten einen hohen Grad der Dif-<lb/>
ferenzirung annehmen, weil ihre unbegrenzte Fortpflanzungs-<lb/>
fähigkeit für die Erhaltung der Art nicht mehr nöthig war.<lb/>
Im Aufsatz XI heisst es p. 645: &#x201E;Ich glaube, gezeigt zu<lb/>
haben, dass Organe, welche nicht mehr gebraucht werden,<lb/>
schon allein durch Panmixie rudimentär werden und schliess-<lb/>
lich ganz schwinden müssen, nicht durch die directe Wirkung<lb/>
des Nichtgebrauchs, sondern dadurch, dass Naturzüchtung<lb/>
sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhält. Was<lb/>
für Organe gilt, gilt ebenso auch für Functionen, denn Func-<lb/>
tionen sind nur der Ausdruck einer bestimmten Beschaffen-<lb/>
heit materieller Theile, mögen wir nun dieselben wahrnehmen<lb/>
oder nicht. Wenn nun also die Unsterblichkeit der Ein-<lb/>
zelligen darauf beruhen muss, dass ihre Substanz so zu-<lb/>
sammengesetzt ist, dass der Stoffwechsel genau wieder in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0092] müssen. Wir wissen es noch nicht ganz genau, in welchem Grade andere hoch differenzirte Zellen, wie Muskel- und Nervenzellen, demselben Schicksal unterworfen sind, aber dass sie durch die Function abgenutzt werden, ist sehr wahrscheinlich. Meine Hypothese besteht nun darin, dass ich annehme, es sei der Wiederersatz der durch die Function zu Grunde gehenden Somazellen bei jeder Art regulirt, und zwar durch Modificationen in ihrer Constitution. Da Fort- pflanzung so gut eine Function ist als Ernährung, so wird auch sie von der Constitution der Zelle regulirt werden müssen, d. h. bei gleicher Ernährung u. s. w. wird die eine Zellenart sich rascher, die andere langsamer fortpflanzen, der Process der Fortpflanzung wird bei der einen früher, bei der anderen später sein Ende finden. Die somatischen Zellen haben durch einseitige Ausbildung für eine bestimmte Function die unbegrenzte Fortpflanzungs- fähigkeit verloren; sie konnten einen hohen Grad der Dif- ferenzirung annehmen, weil ihre unbegrenzte Fortpflanzungs- fähigkeit für die Erhaltung der Art nicht mehr nöthig war. Im Aufsatz XI heisst es p. 645: „Ich glaube, gezeigt zu haben, dass Organe, welche nicht mehr gebraucht werden, schon allein durch Panmixie rudimentär werden und schliess- lich ganz schwinden müssen, nicht durch die directe Wirkung des Nichtgebrauchs, sondern dadurch, dass Naturzüchtung sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhält. Was für Organe gilt, gilt ebenso auch für Functionen, denn Func- tionen sind nur der Ausdruck einer bestimmten Beschaffen- heit materieller Theile, mögen wir nun dieselben wahrnehmen oder nicht. Wenn nun also die Unsterblichkeit der Ein- zelligen darauf beruhen muss, dass ihre Substanz so zu- sammengesetzt ist, dass der Stoffwechsel genau wieder in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/92
Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/92>, abgerufen am 05.05.2024.