Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

sonderung der darunter liegenden Schicht lebender Zellen.
Wenn auch das Reinigen der Fühler wie eine Feile wirkte,
so würde eben nur todte Substanz weggefeilt, so etwa, wie
wenn wir uns die Nägel an den Fingern abfeilen. Es wird
wohl auch der hartnäckigste Anhänger der Vererbung er-
worbener Eigenschaften nicht behaupten wollen, dass sich
ein solcher Defect vererben könne.

Da diese Erklärung somit nicht möglich ist, so bleibt
nur diejenige durch Naturzüchtung, und es ist auch "leicht
sich vorzustellen", dass es für das Insect von Nutzen sein
muss, so wichtige Sinnesorgane, wie es die Fühler sind,
von Staub und Schmutz befreien zu können. Aber sobald
man nun versucht, sich den Selectionsprocess im Einzelnen
auszudenken, erkennt man, dass wir auch hier im Grunde
nichts wissen, und dass es jemand, der Selectionsprocesse
überhaupt in das Gebiet der Phantasie verweisen wollte,
ungemein leicht sein würde, seiner Ansicht Nachdruck zu
verleihen; denn es ist sehr schwer, sich diesen
Selectionsprocess wirklich im Einzelnen vor-
zustellen
, und heute noch nicht möglich, ihn zu erweisen
in irgend einem Theile. Da eine plötzliche Entstehung der
Putzscharte ausgeschlossen ist, so würden wir also anzu-
nehmen haben, dass die Scharte damit begonnen habe,
dass Individuen der betreffenden Bienen-Art vorkamen,
welche an Stelle der späteren Scharte eine kleine Ab-
flachung der stark convex gewölbten Oberfläche des Meta-
tarsus besassen, und dass diese den gewöhnlichen Individuen
der Art im Kampf ums Dasein dadurch überlegen waren.
Wie leicht wäre es aber dem Gegner, diese Ueberlegenheit
anzuzweifeln. Er würde vielleicht bereit sein, zu glauben,
dass ein Insect, welches gar keine Mittel habe seine Fühler

sonderung der darunter liegenden Schicht lebender Zellen.
Wenn auch das Reinigen der Fühler wie eine Feile wirkte,
so würde eben nur todte Substanz weggefeilt, so etwa, wie
wenn wir uns die Nägel an den Fingern abfeilen. Es wird
wohl auch der hartnäckigste Anhänger der Vererbung er-
worbener Eigenschaften nicht behaupten wollen, dass sich
ein solcher Defect vererben könne.

Da diese Erklärung somit nicht möglich ist, so bleibt
nur diejenige durch Naturzüchtung, und es ist auch „leicht
sich vorzustellen“, dass es für das Insect von Nutzen sein
muss, so wichtige Sinnesorgane, wie es die Fühler sind,
von Staub und Schmutz befreien zu können. Aber sobald
man nun versucht, sich den Selectionsprocess im Einzelnen
auszudenken, erkennt man, dass wir auch hier im Grunde
nichts wissen, und dass es jemand, der Selectionsprocesse
überhaupt in das Gebiet der Phantasie verweisen wollte,
ungemein leicht sein würde, seiner Ansicht Nachdruck zu
verleihen; denn es ist sehr schwer, sich diesen
Selectionsprocess wirklich im Einzelnen vor-
zustellen
, und heute noch nicht möglich, ihn zu erweisen
in irgend einem Theile. Da eine plötzliche Entstehung der
Putzscharte ausgeschlossen ist, so würden wir also anzu-
nehmen haben, dass die Scharte damit begonnen habe,
dass Individuen der betreffenden Bienen-Art vorkamen,
welche an Stelle der späteren Scharte eine kleine Ab-
flachung der stark convex gewölbten Oberfläche des Meta-
tarsus besassen, und dass diese den gewöhnlichen Individuen
der Art im Kampf ums Dasein dadurch überlegen waren.
Wie leicht wäre es aber dem Gegner, diese Ueberlegenheit
anzuzweifeln. Er würde vielleicht bereit sein, zu glauben,
dass ein Insect, welches gar keine Mittel habe seine Fühler

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0043" n="31"/>
sonderung der darunter liegenden Schicht lebender Zellen.<lb/>
Wenn auch das Reinigen der Fühler wie eine Feile wirkte,<lb/>
so würde eben nur todte Substanz weggefeilt, so etwa, wie<lb/>
wenn wir uns die Nägel an den Fingern abfeilen. Es wird<lb/>
wohl auch der hartnäckigste Anhänger der Vererbung er-<lb/>
worbener Eigenschaften nicht behaupten wollen, dass sich<lb/>
ein solcher Defect vererben könne.</p><lb/>
        <p>Da diese Erklärung somit nicht möglich ist, so bleibt<lb/>
nur diejenige durch Naturzüchtung, und es ist auch &#x201E;leicht<lb/>
sich vorzustellen&#x201C;, dass es für das Insect von Nutzen sein<lb/>
muss, so wichtige Sinnesorgane, wie es die Fühler sind,<lb/>
von Staub und Schmutz befreien zu können. Aber sobald<lb/>
man nun versucht, sich den Selectionsprocess im Einzelnen<lb/>
auszudenken, erkennt man, dass wir auch hier im Grunde<lb/>
nichts wissen, und dass es jemand, der Selectionsprocesse<lb/>
überhaupt in das Gebiet der Phantasie verweisen wollte,<lb/>
ungemein leicht sein würde, seiner Ansicht Nachdruck zu<lb/>
verleihen; <hi rendition="#g">denn es ist sehr schwer, sich diesen<lb/>
Selectionsprocess wirklich im Einzelnen vor-<lb/>
zustellen</hi>, und heute noch nicht möglich, ihn zu erweisen<lb/>
in irgend einem Theile. Da eine plötzliche Entstehung der<lb/>
Putzscharte ausgeschlossen ist, so würden wir also anzu-<lb/>
nehmen haben, dass die Scharte damit begonnen habe,<lb/>
dass Individuen der betreffenden Bienen-Art vorkamen,<lb/>
welche an Stelle der späteren Scharte eine kleine Ab-<lb/>
flachung der stark convex gewölbten Oberfläche des Meta-<lb/>
tarsus besassen, und dass diese den gewöhnlichen Individuen<lb/>
der Art im Kampf ums Dasein dadurch überlegen waren.<lb/>
Wie leicht wäre es aber dem Gegner, diese Ueberlegenheit<lb/>
anzuzweifeln. Er würde vielleicht bereit sein, zu glauben,<lb/>
dass ein Insect, welches gar keine Mittel habe seine Fühler<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0043] sonderung der darunter liegenden Schicht lebender Zellen. Wenn auch das Reinigen der Fühler wie eine Feile wirkte, so würde eben nur todte Substanz weggefeilt, so etwa, wie wenn wir uns die Nägel an den Fingern abfeilen. Es wird wohl auch der hartnäckigste Anhänger der Vererbung er- worbener Eigenschaften nicht behaupten wollen, dass sich ein solcher Defect vererben könne. Da diese Erklärung somit nicht möglich ist, so bleibt nur diejenige durch Naturzüchtung, und es ist auch „leicht sich vorzustellen“, dass es für das Insect von Nutzen sein muss, so wichtige Sinnesorgane, wie es die Fühler sind, von Staub und Schmutz befreien zu können. Aber sobald man nun versucht, sich den Selectionsprocess im Einzelnen auszudenken, erkennt man, dass wir auch hier im Grunde nichts wissen, und dass es jemand, der Selectionsprocesse überhaupt in das Gebiet der Phantasie verweisen wollte, ungemein leicht sein würde, seiner Ansicht Nachdruck zu verleihen; denn es ist sehr schwer, sich diesen Selectionsprocess wirklich im Einzelnen vor- zustellen, und heute noch nicht möglich, ihn zu erweisen in irgend einem Theile. Da eine plötzliche Entstehung der Putzscharte ausgeschlossen ist, so würden wir also anzu- nehmen haben, dass die Scharte damit begonnen habe, dass Individuen der betreffenden Bienen-Art vorkamen, welche an Stelle der späteren Scharte eine kleine Ab- flachung der stark convex gewölbten Oberfläche des Meta- tarsus besassen, und dass diese den gewöhnlichen Individuen der Art im Kampf ums Dasein dadurch überlegen waren. Wie leicht wäre es aber dem Gegner, diese Ueberlegenheit anzuzweifeln. Er würde vielleicht bereit sein, zu glauben, dass ein Insect, welches gar keine Mittel habe seine Fühler

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/43
Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/43>, abgerufen am 27.04.2024.