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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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wie wenn wir von einer Billion oder Trillion von Dingen
reden; wir müssen den ungeheuren Haufen in eine Einheit
verwandeln, um damit operiren zu können, da die Vielheit
allzu weit über unsere Erfahrung hinausgeht. Das wird
leicht vergessen. Uebrigens ist die Zunge bei vielen Thieren,
und zwar grade noch bei den nächsten Verwandten des
Menschen, den Affen -- wie Romanes 1) sehr richtig be-
reits gegen Spencer bemerkt hat -- ein Tastorgan, wel-
ches nicht blos im Munde zu functioniren hat, indem es
beim Kauen den Bissen zurechtschiebt, sondern welches
zugleich als Hand zum Betasten äusserer Gegenstände
dient. Warum sollte also nicht ein entscheidender Vortheil
im Kampf ums Dasein darin liegen können, wenn es feiner
ausgebildet ist, als bei anderen Individuen der gleichen
Art? Hängt doch das Leben der Thiere wesentlich von
der Schärfe ihrer Sinnesorgane ab.

Aber freilich in diesem Falle steht dem Anhänger La-
marck's
der Ausweg mittelst der Vererbung functioneller
Abänderungen frei, insofern man annehmen kann, die Tast-
papillen der Zungenspitze hätten sich durch den intensiven
Gebrauch immer zahlreicher vermehrt. Aber es gibt Bei-
spiele genug, in welchen man diesen hypothetischen Factor
ausschliessen kann, und eins davon möchte ich hier an-
führen, weil er mir schon seit langer Zeit ein guter Beweis
dafür zu sein scheint, wie wenig bei der Annahme von
Selectionsprocessen darauf ankommt, ob wir sie uns leicht
oder schwer vorstellen können.

Sehr viele Insecten, besonders schön aber die Bienen

1) "Mr. Herbert Spencer on natural Selection" in
Contemp. Review, No. 328, April 1893, p. 499.

wie wenn wir von einer Billion oder Trillion von Dingen
reden; wir müssen den ungeheuren Haufen in eine Einheit
verwandeln, um damit operiren zu können, da die Vielheit
allzu weit über unsere Erfahrung hinausgeht. Das wird
leicht vergessen. Uebrigens ist die Zunge bei vielen Thieren,
und zwar grade noch bei den nächsten Verwandten des
Menschen, den Affen — wie Romanes 1) sehr richtig be-
reits gegen Spencer bemerkt hat — ein Tastorgan, wel-
ches nicht blos im Munde zu functioniren hat, indem es
beim Kauen den Bissen zurechtschiebt, sondern welches
zugleich als Hand zum Betasten äusserer Gegenstände
dient. Warum sollte also nicht ein entscheidender Vortheil
im Kampf ums Dasein darin liegen können, wenn es feiner
ausgebildet ist, als bei anderen Individuen der gleichen
Art? Hängt doch das Leben der Thiere wesentlich von
der Schärfe ihrer Sinnesorgane ab.

Aber freilich in diesem Falle steht dem Anhänger La-
marck’s
der Ausweg mittelst der Vererbung functioneller
Abänderungen frei, insofern man annehmen kann, die Tast-
papillen der Zungenspitze hätten sich durch den intensiven
Gebrauch immer zahlreicher vermehrt. Aber es gibt Bei-
spiele genug, in welchen man diesen hypothetischen Factor
ausschliessen kann, und eins davon möchte ich hier an-
führen, weil er mir schon seit langer Zeit ein guter Beweis
dafür zu sein scheint, wie wenig bei der Annahme von
Selectionsprocessen darauf ankommt, ob wir sie uns leicht
oder schwer vorstellen können.

Sehr viele Insecten, besonders schön aber die Bienen

1) „Mr. Herbert Spencer on natural Selection“ in
Contemp. Review, No. 328, April 1893, p. 499.
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[29/0041] wie wenn wir von einer Billion oder Trillion von Dingen reden; wir müssen den ungeheuren Haufen in eine Einheit verwandeln, um damit operiren zu können, da die Vielheit allzu weit über unsere Erfahrung hinausgeht. Das wird leicht vergessen. Uebrigens ist die Zunge bei vielen Thieren, und zwar grade noch bei den nächsten Verwandten des Menschen, den Affen — wie Romanes 1) sehr richtig be- reits gegen Spencer bemerkt hat — ein Tastorgan, wel- ches nicht blos im Munde zu functioniren hat, indem es beim Kauen den Bissen zurechtschiebt, sondern welches zugleich als Hand zum Betasten äusserer Gegenstände dient. Warum sollte also nicht ein entscheidender Vortheil im Kampf ums Dasein darin liegen können, wenn es feiner ausgebildet ist, als bei anderen Individuen der gleichen Art? Hängt doch das Leben der Thiere wesentlich von der Schärfe ihrer Sinnesorgane ab. Aber freilich in diesem Falle steht dem Anhänger La- marck’s der Ausweg mittelst der Vererbung functioneller Abänderungen frei, insofern man annehmen kann, die Tast- papillen der Zungenspitze hätten sich durch den intensiven Gebrauch immer zahlreicher vermehrt. Aber es gibt Bei- spiele genug, in welchen man diesen hypothetischen Factor ausschliessen kann, und eins davon möchte ich hier an- führen, weil er mir schon seit langer Zeit ein guter Beweis dafür zu sein scheint, wie wenig bei der Annahme von Selectionsprocessen darauf ankommt, ob wir sie uns leicht oder schwer vorstellen können. Sehr viele Insecten, besonders schön aber die Bienen 1) „Mr. Herbert Spencer on natural Selection“ in Contemp. Review, No. 328, April 1893, p. 499.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/41>, abgerufen am 25.04.2024.