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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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in der That gar nichts, als die principielle Grundlage des
Processes, und deshalb kann Jeder, der den logischen
Zwang der Theorie nicht begreifen oder nicht anerkennen
will, mit Leichtigkeit den einzelnen Fall als unannehmbar
hinstellen. Herbert Spencer scheint es unbekannt zu
sein, dass Nägeli in seinem Buch 1), welches vor einem
Jahrzehnt viel Aufsehen in der Wissenschaft machte, grade
diesen Fall von der Giraffe analysirte und zu zeigen suchte,
dass Selectionsprocesse durchaus nicht im Stande seien, die
Höhe der Giraffe zu erklären.

Mein Gegner meint ferner, die ausserordentliche Fein-
heit der Tastempfindung an der Zungenspitze lasse sich
nicht durch Selectionsprocesse erklären, denn ich würde
doch nicht behaupten wollen, dass ein Individuum mit weni-
ger feinfühliger Zungenspitze als ein anderes jemals da-
durch im Kampf ums Dasein unterlegen sei. Eine solche
Wirkung scheint ihm offenbar schwer vorzustellen. Sie ist
es auch, weil wir in den Lebenskampf der Thiere nur sehr
unvollkommen hineinsehen, und noch mehr, weil wir leicht
vergessen, dass es sich bei so hochentwickelten Organen,
wie es die Zunge des Menschen ist, um das Endresultat
eines unendlich langen, durch Tausende und Tausende von
Arten sich fortziehenden Vervollkommnungsprocesses han-
delt, den wir wiederum völlig ausser Stande sind uns
einigermaassen entsprechend vorzustellen. Unsere Vor-
stellungskraft reicht nicht bis zu so ungeheuren Zeitfolgen
und so langgedehnten Entwickelungsreihen; wir sprechen
von ihnen, ohne recht zu wissen, was wir sagen, etwa so,

1) "Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungs-
lehre", München u. Leipzig 1884.

in der That gar nichts, als die principielle Grundlage des
Processes, und deshalb kann Jeder, der den logischen
Zwang der Theorie nicht begreifen oder nicht anerkennen
will, mit Leichtigkeit den einzelnen Fall als unannehmbar
hinstellen. Herbert Spencer scheint es unbekannt zu
sein, dass Nägeli in seinem Buch 1), welches vor einem
Jahrzehnt viel Aufsehen in der Wissenschaft machte, grade
diesen Fall von der Giraffe analysirte und zu zeigen suchte,
dass Selectionsprocesse durchaus nicht im Stande seien, die
Höhe der Giraffe zu erklären.

Mein Gegner meint ferner, die ausserordentliche Fein-
heit der Tastempfindung an der Zungenspitze lasse sich
nicht durch Selectionsprocesse erklären, denn ich würde
doch nicht behaupten wollen, dass ein Individuum mit weni-
ger feinfühliger Zungenspitze als ein anderes jemals da-
durch im Kampf ums Dasein unterlegen sei. Eine solche
Wirkung scheint ihm offenbar schwer vorzustellen. Sie ist
es auch, weil wir in den Lebenskampf der Thiere nur sehr
unvollkommen hineinsehen, und noch mehr, weil wir leicht
vergessen, dass es sich bei so hochentwickelten Organen,
wie es die Zunge des Menschen ist, um das Endresultat
eines unendlich langen, durch Tausende und Tausende von
Arten sich fortziehenden Vervollkommnungsprocesses han-
delt, den wir wiederum völlig ausser Stande sind uns
einigermaassen entsprechend vorzustellen. Unsere Vor-
stellungskraft reicht nicht bis zu so ungeheuren Zeitfolgen
und so langgedehnten Entwickelungsreihen; wir sprechen
von ihnen, ohne recht zu wissen, was wir sagen, etwa so,

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[28/0040] in der That gar nichts, als die principielle Grundlage des Processes, und deshalb kann Jeder, der den logischen Zwang der Theorie nicht begreifen oder nicht anerkennen will, mit Leichtigkeit den einzelnen Fall als unannehmbar hinstellen. Herbert Spencer scheint es unbekannt zu sein, dass Nägeli in seinem Buch 1), welches vor einem Jahrzehnt viel Aufsehen in der Wissenschaft machte, grade diesen Fall von der Giraffe analysirte und zu zeigen suchte, dass Selectionsprocesse durchaus nicht im Stande seien, die Höhe der Giraffe zu erklären. Mein Gegner meint ferner, die ausserordentliche Fein- heit der Tastempfindung an der Zungenspitze lasse sich nicht durch Selectionsprocesse erklären, denn ich würde doch nicht behaupten wollen, dass ein Individuum mit weni- ger feinfühliger Zungenspitze als ein anderes jemals da- durch im Kampf ums Dasein unterlegen sei. Eine solche Wirkung scheint ihm offenbar schwer vorzustellen. Sie ist es auch, weil wir in den Lebenskampf der Thiere nur sehr unvollkommen hineinsehen, und noch mehr, weil wir leicht vergessen, dass es sich bei so hochentwickelten Organen, wie es die Zunge des Menschen ist, um das Endresultat eines unendlich langen, durch Tausende und Tausende von Arten sich fortziehenden Vervollkommnungsprocesses han- delt, den wir wiederum völlig ausser Stande sind uns einigermaassen entsprechend vorzustellen. Unsere Vor- stellungskraft reicht nicht bis zu so ungeheuren Zeitfolgen und so langgedehnten Entwickelungsreihen; wir sprechen von ihnen, ohne recht zu wissen, was wir sagen, etwa so, 1) „Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungs- lehre“, München u. Leipzig 1884.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/40>, abgerufen am 25.04.2024.