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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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vor Allem nicht wieder zu ersetzen im Stande sind. Dennoch
haben viele Fische Zähne, die der Abnutzung stark ausgesetzt
sind, und besitzen deshalb die Fähigkeit, immer wieder neue
Zähne zum Ersatz der alten hervorzubringen. Am Gebiss eines
Rochen oder Haien stehen die Zähne in Längsreihen auf dem
Kieferrand, und zwar folgen sich mehrere bis viele solcher
Längsreihen hintereinander, von denen die vordersten die ab-
genutzten, die dahinter folgenden immer jüngere Ersatzzähne
sind. Neben den Fischen zeigen die Vögel ein sehr geringes
Vermögen, zufällig entstandene Defekte zu ergänzen, und man
bezeichnet sie deshalb als Thiere mit sehr geringem Regene-
rationsvermögen. Aber gerade die Vögel haben in Bezug auf
gewisse Theile ein ganz ausserordentlich hohes physiologisches
Regenerationsvermögen, für das Federkleid nämlich, welches sie
bekanntlich in jedem Jahre einmal ganz abstossen und neu
wieder hervorbringen. Bei den Säugern beschränkt sich die
pathologische Regeneration auf ein sehr geringes Maass: Deck-
epithelien, die Epithelien der Drüsengänge, die Gewebe der
Bindesubstanzen, worunter auch das Knochengewebe gehört,
die Nervenfasern können Defekte wieder durch die eigenen Ge-
webselemente ausbessern, keinem Säugethier aber wächst ein
Fingerglied oder ein Augenlid wieder, wenn es abgeschnitten
wurde. Dennoch giebt es Säugethiere, deren physiologische
Regenerationskraft in Bezug auf ein bestimmtes Organ ungemein
gross ist. Die männlichen Hirsche werfen jährlich ihr Geweih
ab und bilden es wieder neu im Verlauf von vier bis fünf
Monaten, eine Leistung, die in Betracht der Masse organischen
Gewebes, welche hier in so kurzer Zeit gebildet wird, selbst
die regenerativen Leistungen der erwachsenen Salamander hinter
sich lässt, denn diese brauchen nach Spallanzani mehr als
ein Jahr, um ein abgeschnittenes Bein in der normalen Grösse
und Festigkeit wieder herzustellen. Junge Thiere freilich re-

vor Allem nicht wieder zu ersetzen im Stande sind. Dennoch
haben viele Fische Zähne, die der Abnutzung stark ausgesetzt
sind, und besitzen deshalb die Fähigkeit, immer wieder neue
Zähne zum Ersatz der alten hervorzubringen. Am Gebiss eines
Rochen oder Haien stehen die Zähne in Längsreihen auf dem
Kieferrand, und zwar folgen sich mehrere bis viele solcher
Längsreihen hintereinander, von denen die vordersten die ab-
genutzten, die dahinter folgenden immer jüngere Ersatzzähne
sind. Neben den Fischen zeigen die Vögel ein sehr geringes
Vermögen, zufällig entstandene Defekte zu ergänzen, und man
bezeichnet sie deshalb als Thiere mit sehr geringem Regene-
rationsvermögen. Aber gerade die Vögel haben in Bezug auf
gewisse Theile ein ganz ausserordentlich hohes physiologisches
Regenerationsvermögen, für das Federkleid nämlich, welches sie
bekanntlich in jedem Jahre einmal ganz abstossen und neu
wieder hervorbringen. Bei den Säugern beschränkt sich die
pathologische Regeneration auf ein sehr geringes Maass: Deck-
epithelien, die Epithelien der Drüsengänge, die Gewebe der
Bindesubstanzen, worunter auch das Knochengewebe gehört,
die Nervenfasern können Defekte wieder durch die eigenen Ge-
webselemente ausbessern, keinem Säugethier aber wächst ein
Fingerglied oder ein Augenlid wieder, wenn es abgeschnitten
wurde. Dennoch giebt es Säugethiere, deren physiologische
Regenerationskraft in Bezug auf ein bestimmtes Organ ungemein
gross ist. Die männlichen Hirsche werfen jährlich ihr Geweih
ab und bilden es wieder neu im Verlauf von vier bis fünf
Monaten, eine Leistung, die in Betracht der Masse organischen
Gewebes, welche hier in so kurzer Zeit gebildet wird, selbst
die regenerativen Leistungen der erwachsenen Salamander hinter
sich lässt, denn diese brauchen nach Spallanzani mehr als
ein Jahr, um ein abgeschnittenes Bein in der normalen Grösse
und Festigkeit wieder herzustellen. Junge Thiere freilich re-

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[160/0184] vor Allem nicht wieder zu ersetzen im Stande sind. Dennoch haben viele Fische Zähne, die der Abnutzung stark ausgesetzt sind, und besitzen deshalb die Fähigkeit, immer wieder neue Zähne zum Ersatz der alten hervorzubringen. Am Gebiss eines Rochen oder Haien stehen die Zähne in Längsreihen auf dem Kieferrand, und zwar folgen sich mehrere bis viele solcher Längsreihen hintereinander, von denen die vordersten die ab- genutzten, die dahinter folgenden immer jüngere Ersatzzähne sind. Neben den Fischen zeigen die Vögel ein sehr geringes Vermögen, zufällig entstandene Defekte zu ergänzen, und man bezeichnet sie deshalb als Thiere mit sehr geringem Regene- rationsvermögen. Aber gerade die Vögel haben in Bezug auf gewisse Theile ein ganz ausserordentlich hohes physiologisches Regenerationsvermögen, für das Federkleid nämlich, welches sie bekanntlich in jedem Jahre einmal ganz abstossen und neu wieder hervorbringen. Bei den Säugern beschränkt sich die pathologische Regeneration auf ein sehr geringes Maass: Deck- epithelien, die Epithelien der Drüsengänge, die Gewebe der Bindesubstanzen, worunter auch das Knochengewebe gehört, die Nervenfasern können Defekte wieder durch die eigenen Ge- webselemente ausbessern, keinem Säugethier aber wächst ein Fingerglied oder ein Augenlid wieder, wenn es abgeschnitten wurde. Dennoch giebt es Säugethiere, deren physiologische Regenerationskraft in Bezug auf ein bestimmtes Organ ungemein gross ist. Die männlichen Hirsche werfen jährlich ihr Geweih ab und bilden es wieder neu im Verlauf von vier bis fünf Monaten, eine Leistung, die in Betracht der Masse organischen Gewebes, welche hier in so kurzer Zeit gebildet wird, selbst die regenerativen Leistungen der erwachsenen Salamander hinter sich lässt, denn diese brauchen nach Spallanzani mehr als ein Jahr, um ein abgeschnittenes Bein in der normalen Grösse und Festigkeit wieder herzustellen. Junge Thiere freilich re-

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/184>, abgerufen am 27.04.2024.