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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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Exartikulation des Beines, oder eines Abschnittes des-
selben kommt aber unter natürlichen Lebensbeding-
ungen kaum jemals vor, und so konnte dieser Fall
von dem Organismus auch nicht vorgesehen, und die
betreffenden Zellen des geöffneten Gelenkes nicht mit
den zur Regeneration nöthigen Ersatz-Determinanten
ausgerüstet werden
. Deshalb fehlt ihnen die Fähigkeit, auf
den Reiz der Exartikulation in adäquater Weise zu reagiren.

Wenn man aber auch allen den bis jetzt angeführten
Thatsachen gegenüber vielleicht noch zweifelhaft sein könnte,
ob wirklich die Regenerationskraft auf einer speciellen Anpassung
des betreffenden Theils beruhe, und nicht ein Ausfluss der Organi-
sationshöhe des Thieres oder doch einer allgemeinen, dem
ganzen Organismus innewohnenden Kraft der Regeneration be-
ruhe, so müssten die folgenden Erwägungen, wie mir scheint,
alle Zweifel beseitigen. Offenbar beruht die physiologische
Regeneration auf den gleichen Ursachen wie die pathologische,
beide gehen vielfach ineinander über, und eine wirkliche Grenze
besteht nicht zwischen ihnen. Nun finden wir aber gerade
bei solchen Thierklassen, deren pathologische "Regenerations-
kraft" eine sehr geringe ist, eine ungemein hohe physio-
logische Regenerationskraft, und dies beweist, dass die geringe
Höhe der ersteren unmöglich auf einer dem Organismus
innewohnenden allgemeinen Regenerationskraft beruhen kann,
dass vielmehr an solchen Theilen des Körpers, welche einer
steten oder periodischen Regeneration bedurften, eine solche
auch eingerichtet werden konnte, oder mit anderen Worten:
dass die Regenerationskraft eines Theiles auf
Anpassung beruht
. Beispiele dafür sind leicht zu finden.
Die Fische wurden oben schon erwähnt als Thiere, denen
man eine sehr geringe "allgemeine Regenerationskraft" zu-
schreibt, weil sie verloren gegangene äussere Theile, Flossen

Exartikulation des Beines, oder eines Abschnittes des-
selben kommt aber unter natürlichen Lebensbeding-
ungen kaum jemals vor, und so konnte dieser Fall
von dem Organismus auch nicht vorgesehen, und die
betreffenden Zellen des geöffneten Gelenkes nicht mit
den zur Regeneration nöthigen Ersatz-Determinanten
ausgerüstet werden
. Deshalb fehlt ihnen die Fähigkeit, auf
den Reiz der Exartikulation in adäquater Weise zu reagiren.

Wenn man aber auch allen den bis jetzt angeführten
Thatsachen gegenüber vielleicht noch zweifelhaft sein könnte,
ob wirklich die Regenerationskraft auf einer speciellen Anpassung
des betreffenden Theils beruhe, und nicht ein Ausfluss der Organi-
sationshöhe des Thieres oder doch einer allgemeinen, dem
ganzen Organismus innewohnenden Kraft der Regeneration be-
ruhe, so müssten die folgenden Erwägungen, wie mir scheint,
alle Zweifel beseitigen. Offenbar beruht die physiologische
Regeneration auf den gleichen Ursachen wie die pathologische,
beide gehen vielfach ineinander über, und eine wirkliche Grenze
besteht nicht zwischen ihnen. Nun finden wir aber gerade
bei solchen Thierklassen, deren pathologische „Regenerations-
kraft“ eine sehr geringe ist, eine ungemein hohe physio-
logische Regenerationskraft, und dies beweist, dass die geringe
Höhe der ersteren unmöglich auf einer dem Organismus
innewohnenden allgemeinen Regenerationskraft beruhen kann,
dass vielmehr an solchen Theilen des Körpers, welche einer
steten oder periodischen Regeneration bedurften, eine solche
auch eingerichtet werden konnte, oder mit anderen Worten:
dass die Regenerationskraft eines Theiles auf
Anpassung beruht
. Beispiele dafür sind leicht zu finden.
Die Fische wurden oben schon erwähnt als Thiere, denen
man eine sehr geringe „allgemeine Regenerationskraft“ zu-
schreibt, weil sie verloren gegangene äussere Theile, Flossen

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[159/0183] Exartikulation des Beines, oder eines Abschnittes des- selben kommt aber unter natürlichen Lebensbeding- ungen kaum jemals vor, und so konnte dieser Fall von dem Organismus auch nicht vorgesehen, und die betreffenden Zellen des geöffneten Gelenkes nicht mit den zur Regeneration nöthigen Ersatz-Determinanten ausgerüstet werden. Deshalb fehlt ihnen die Fähigkeit, auf den Reiz der Exartikulation in adäquater Weise zu reagiren. Wenn man aber auch allen den bis jetzt angeführten Thatsachen gegenüber vielleicht noch zweifelhaft sein könnte, ob wirklich die Regenerationskraft auf einer speciellen Anpassung des betreffenden Theils beruhe, und nicht ein Ausfluss der Organi- sationshöhe des Thieres oder doch einer allgemeinen, dem ganzen Organismus innewohnenden Kraft der Regeneration be- ruhe, so müssten die folgenden Erwägungen, wie mir scheint, alle Zweifel beseitigen. Offenbar beruht die physiologische Regeneration auf den gleichen Ursachen wie die pathologische, beide gehen vielfach ineinander über, und eine wirkliche Grenze besteht nicht zwischen ihnen. Nun finden wir aber gerade bei solchen Thierklassen, deren pathologische „Regenerations- kraft“ eine sehr geringe ist, eine ungemein hohe physio- logische Regenerationskraft, und dies beweist, dass die geringe Höhe der ersteren unmöglich auf einer dem Organismus innewohnenden allgemeinen Regenerationskraft beruhen kann, dass vielmehr an solchen Theilen des Körpers, welche einer steten oder periodischen Regeneration bedurften, eine solche auch eingerichtet werden konnte, oder mit anderen Worten: dass die Regenerationskraft eines Theiles auf Anpassung beruht. Beispiele dafür sind leicht zu finden. Die Fische wurden oben schon erwähnt als Thiere, denen man eine sehr geringe „allgemeine Regenerationskraft“ zu- schreibt, weil sie verloren gegangene äussere Theile, Flossen

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/183>, abgerufen am 27.04.2024.