Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_135.001 "Zum Geschaffensein des Werkes gehören ebenso wesentlich wie die pwe_135.002 Aber auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich pwe_135.017 Sie haben wie das Einzelwerk einen gerichteten Verlauf; sie haben dieselben pwe_135.035 pwe_135.001 „Zum Geschaffensein des Werkes gehören ebenso wesentlich wie die pwe_135.002 Aber auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich pwe_135.017 Sie haben wie das Einzelwerk einen gerichteten Verlauf; sie haben dieselben pwe_135.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0141" n="135"/> <lb n="pwe_135.001"/> <p> „Zum Geschaffensein des Werkes gehören ebenso wesentlich wie die <lb n="pwe_135.002"/> Schaffenden auch die Bewahrenden“ sagt <hi rendition="#k">Heidegger.</hi> Das Fortschreiten der <lb n="pwe_135.003"/> Interpretation vom Werk zum <hi rendition="#g">Dichter</hi> einerseits und zu der menschlichen <lb n="pwe_135.004"/> <hi rendition="#g">Gemeinschaft</hi> anderseits und umgekehrt ist damit legitimiert, <lb n="pwe_135.005"/> ja geboten. Das Werk ist ein Stilganzes nur, weil es nicht nur sich selbst <lb n="pwe_135.006"/> spiegelt, sondern eine Welt offenbart, die über es hinaus ist: die Welt eines <lb n="pwe_135.007"/> Dichters und, da ein Mensch ebenso wenig isolierbar ist wie das Werk, die <lb n="pwe_135.008"/> Welt einer Gemeinschaft, eines Publikums, einer Nation. Da das Werk weniger <lb n="pwe_135.009"/> ein Sein als ein Werden ist, hat und ist es auch geschichtliche Funktion. <lb n="pwe_135.010"/> So erfahren der biographische und psychologische und soziologische Weg, <lb n="pwe_135.011"/> Literatur zu verstehen, bis zu einem gewissen Grade ihre Begründung. <lb n="pwe_135.012"/> Wenn wir diese letzten Gesichtspunkte und Methoden bereits vorweggenommen <lb n="pwe_135.013"/> haben, obwohl sie weithin Formen historischen Verstehens sind, so geschah <lb n="pwe_135.014"/> dies nur, weil hier das Gebiet der Literaturwissenschaft auch wieder <lb n="pwe_135.015"/> überschritten wird und zu besonderen, außerliterarischen Fragen führt.</p> <lb n="pwe_135.016"/> <p> Aber auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich <lb n="pwe_135.017"/> es sein mag, so ist es, wie das menschliche Lebewesen, nur als <lb n="pwe_135.018"/> geselliges Wesen möglich. Wie der Laut, der Satz und das Wort in einem <lb n="pwe_135.019"/> „Felde“, im Stilganzen einer Sprache stehen, so steht die Einzeldichtung in <lb n="pwe_135.020"/> einem übergreifenden Zusammenhang mit anderen Werken, mit der Stilsprache <lb n="pwe_135.021"/> und dem Stil eines dichterischen Oeuvres, einer Epochenliteratur <lb n="pwe_135.022"/> usw. Das Werk ist nur möglich im Schnittpunkt der Vertikalen aus dem <lb n="pwe_135.023"/> Ursprung und der Horizontalen aus der „<hi rendition="#i">Tradition</hi>“. „Tradition“ kann <lb n="pwe_135.024"/> allerdings kaum mehr als der Kausalzusammenhang von „Einflüssen“ gelten, <lb n="pwe_135.025"/> ist vielmehr vorsichtiger als ein im Werk sich spiegelnder Konstellationszusammenhang <lb n="pwe_135.026"/> zu verstehen, d. h. sozusagen als ein „Feld“, als die relative <lb n="pwe_135.027"/> Geschlossenheit einer künstlerischen Stilsprache in der Gesamtheit ihrer Repräsentanten. <lb n="pwe_135.028"/> Was der Kunstgeschichte selbstverständlich ist, hat die Literaturwissenschaft <lb n="pwe_135.029"/> gelegentlich zu Unrecht verdrängt: daß die Stile der Dichter, <lb n="pwe_135.030"/> der Gesellschaftsschicht, der Epoche, ja vielleicht sogar eines Raumes <lb n="pwe_135.031"/> reale Forschungsgegenstände darstellen. Aber was für eine Seinsweise haben <lb n="pwe_135.032"/> diese übergeordneten Stilganzheiten (Barock, Goethe, Höfische Dichtung <lb n="pwe_135.033"/> usw.)?</p> <lb n="pwe_135.034"/> <p> Sie haben wie das Einzelwerk einen gerichteten Verlauf; sie haben dieselben <lb n="pwe_135.035"/> Schichten oder Aspekte des Lautsinnlichen, Rhythmischen, Vorstellungsmäßigen, <lb n="pwe_135.036"/> Gedanklichen; sie sind wie jenes den Gattungsbegriffen zugänglich. <lb n="pwe_135.037"/> Sie können, mit andern Worten, ebenso gut wie die einzelne Dichtung <lb n="pwe_135.038"/> als poetische Größen betrachtet werden, mit dem einzigen Unterschied, <lb n="pwe_135.039"/> daß die Einzeldichtung überschaubar auf dem Papier steht, wogegen eine <lb n="pwe_135.040"/> Einheit der „Literatur“ erst als Resultat einer literaturwissenschaftlichen <lb n="pwe_135.041"/> Synthese und immer nur in einer gewissen symbolischen Abkürzung gefaßt </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [135/0141]
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„Zum Geschaffensein des Werkes gehören ebenso wesentlich wie die pwe_135.002
Schaffenden auch die Bewahrenden“ sagt Heidegger. Das Fortschreiten der pwe_135.003
Interpretation vom Werk zum Dichter einerseits und zu der menschlichen pwe_135.004
Gemeinschaft anderseits und umgekehrt ist damit legitimiert, pwe_135.005
ja geboten. Das Werk ist ein Stilganzes nur, weil es nicht nur sich selbst pwe_135.006
spiegelt, sondern eine Welt offenbart, die über es hinaus ist: die Welt eines pwe_135.007
Dichters und, da ein Mensch ebenso wenig isolierbar ist wie das Werk, die pwe_135.008
Welt einer Gemeinschaft, eines Publikums, einer Nation. Da das Werk weniger pwe_135.009
ein Sein als ein Werden ist, hat und ist es auch geschichtliche Funktion. pwe_135.010
So erfahren der biographische und psychologische und soziologische Weg, pwe_135.011
Literatur zu verstehen, bis zu einem gewissen Grade ihre Begründung. pwe_135.012
Wenn wir diese letzten Gesichtspunkte und Methoden bereits vorweggenommen pwe_135.013
haben, obwohl sie weithin Formen historischen Verstehens sind, so geschah pwe_135.014
dies nur, weil hier das Gebiet der Literaturwissenschaft auch wieder pwe_135.015
überschritten wird und zu besonderen, außerliterarischen Fragen führt.
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Aber auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich pwe_135.017
es sein mag, so ist es, wie das menschliche Lebewesen, nur als pwe_135.018
geselliges Wesen möglich. Wie der Laut, der Satz und das Wort in einem pwe_135.019
„Felde“, im Stilganzen einer Sprache stehen, so steht die Einzeldichtung in pwe_135.020
einem übergreifenden Zusammenhang mit anderen Werken, mit der Stilsprache pwe_135.021
und dem Stil eines dichterischen Oeuvres, einer Epochenliteratur pwe_135.022
usw. Das Werk ist nur möglich im Schnittpunkt der Vertikalen aus dem pwe_135.023
Ursprung und der Horizontalen aus der „Tradition“. „Tradition“ kann pwe_135.024
allerdings kaum mehr als der Kausalzusammenhang von „Einflüssen“ gelten, pwe_135.025
ist vielmehr vorsichtiger als ein im Werk sich spiegelnder Konstellationszusammenhang pwe_135.026
zu verstehen, d. h. sozusagen als ein „Feld“, als die relative pwe_135.027
Geschlossenheit einer künstlerischen Stilsprache in der Gesamtheit ihrer Repräsentanten. pwe_135.028
Was der Kunstgeschichte selbstverständlich ist, hat die Literaturwissenschaft pwe_135.029
gelegentlich zu Unrecht verdrängt: daß die Stile der Dichter, pwe_135.030
der Gesellschaftsschicht, der Epoche, ja vielleicht sogar eines Raumes pwe_135.031
reale Forschungsgegenstände darstellen. Aber was für eine Seinsweise haben pwe_135.032
diese übergeordneten Stilganzheiten (Barock, Goethe, Höfische Dichtung pwe_135.033
usw.)?
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Sie haben wie das Einzelwerk einen gerichteten Verlauf; sie haben dieselben pwe_135.035
Schichten oder Aspekte des Lautsinnlichen, Rhythmischen, Vorstellungsmäßigen, pwe_135.036
Gedanklichen; sie sind wie jenes den Gattungsbegriffen zugänglich. pwe_135.037
Sie können, mit andern Worten, ebenso gut wie die einzelne Dichtung pwe_135.038
als poetische Größen betrachtet werden, mit dem einzigen Unterschied, pwe_135.039
daß die Einzeldichtung überschaubar auf dem Papier steht, wogegen eine pwe_135.040
Einheit der „Literatur“ erst als Resultat einer literaturwissenschaftlichen pwe_135.041
Synthese und immer nur in einer gewissen symbolischen Abkürzung gefaßt
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