Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_134.001 Es wurde aber im Vorangehenden immer wieder deutlich, wie die strenge pwe_134.014 1 pwe_134.040
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich 1949. pwe_134.001 Es wurde aber im Vorangehenden immer wieder deutlich, wie die strenge pwe_134.014 1 pwe_134.040
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich 1949. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0140" n="134"/><lb n="pwe_134.001"/> „Diätkur“. <hi rendition="#k">Wolfgang Kayser</hi> schließt die Literaturgeschichte aus <lb n="pwe_134.002"/> dem Kreis der Literaturwissenschaft aus, und selbst die ruhig abwägenden <lb n="pwe_134.003"/> und enzyklopädistisch interessierten Verfasser der <hi rendition="#i">Theory of Literature</hi> <lb n="pwe_134.004"/> räumen der „Literary History“ nur ein schmales abschließendes Kapitel ein. <lb n="pwe_134.005"/> Man kann wohl von der schlagwortartigen communis opinio sprechen, daß <lb n="pwe_134.006"/> Kunst als zeitlose bzw. jederzeitige in einem rangmäßigen und wesensmäßigen <lb n="pwe_134.007"/> Sinne der Geschichte als dem Zeitlichen und Veränderlichen <lb n="pwe_134.008"/> prinzipiell entgegengesetzt sei. Wenn in der Linguistik diachronische Sprachgeschichte <lb n="pwe_134.009"/> und synchronische Stilistik als zwei sich bedingende Gesichtspunkte <lb n="pwe_134.010"/> auf einander bezogen bleiben, so verführt der Werkcharakter der <lb n="pwe_134.011"/> Dichtung in der Literaturwissenschaft zur Annahme sich ausschließender <lb n="pwe_134.012"/> Gegensätze.</p> <lb n="pwe_134.013"/> <p> Es wurde aber im Vorangehenden immer wieder deutlich, wie die strenge <lb n="pwe_134.014"/> Werkinterpretation immer wieder an eine Grenze kommt, falls sie in zeitloser <lb n="pwe_134.015"/> Unmittelbarkeit den Charakter der Geschichtlichkeit des Werks übersieht, <lb n="pwe_134.016"/> die „geheimnisvolle Verschränkung von <hi rendition="#i">Geschichtlichkeit und Ursprünglichkeit</hi>“ <lb n="pwe_134.017"/> (<hi rendition="#k">W. Emrich,</hi> vgl. oben S. 105). Als Sprachwerk lebt das <lb n="pwe_134.018"/> Gedicht aus der geschichtlich gewordenen Konvention außerdichterischer <lb n="pwe_134.019"/> Sprache und kehrt wieder in diese zurück; Gattungen, genauer „Arten“ <lb n="pwe_134.020"/> erweisen sich als überlieferte, geschichtliche Formschemata. Die einzelnen <lb n="pwe_134.021"/> Aspekte haben selbst ihre Geschichte: eine Vers- oder Strophenform ist <lb n="pwe_134.022"/> jenseits aller konkreten Stilfunktion im Einzelwerk ein selbständiges Gebilde; <lb n="pwe_134.023"/> die dichterische Symbolwelt bedarf, wie <hi rendition="#k">Emrich</hi> zeigt, einer genetischen <lb n="pwe_134.024"/> Entfaltung; dichterische „Gehalte“, „Ideen“ usw. führen ein gewisses <lb n="pwe_134.025"/> Eigenleben. Stilzüge wie der Rhythmus oder sonst eine „Haltung“ beziehen <lb n="pwe_134.026"/> sich weniger auf das Werk als auf übergeordnete Einheiten des Personalstils <lb n="pwe_134.027"/> oder des Nationalstils. Selbst die Wertung ist geschichtlich bedingt – <lb n="pwe_134.028"/> nicht nur durch den immer eingeengten Standort des Wertenden selbst, <lb n="pwe_134.029"/> sondern durch den Stellenwert (z. B. die Neuheit, die Originalität), den <lb n="pwe_134.030"/> ein Werk kraft seiner Datierung in einem übergeordneten literarischen Zusammenhang <lb n="pwe_134.031"/> besitzt. Als „Transsubstantiation“ und „Transfiguration“ <lb n="pwe_134.032"/> (<hi rendition="#k">Ernst Wolff</hi>) ist das Kunstwerk wesentlich mehr als nur Kunstwerk, <lb n="pwe_134.033"/> es transzendiert sich selbst: der lezte Grund wohl auch für die Unvermeidbarkeit <lb n="pwe_134.034"/> des Form-Inhalt-Schemas. Es gilt auch vom Kunstwerk, was <hi rendition="#k">Karl <lb n="pwe_134.035"/> Jaspers</hi> für das menschliche Dasein überhaupt formuliert<note xml:id="PWE_134_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_134.040"/> Karl Jaspers, <hi rendition="#i">Vom Ursprung und Ziel der Geschichte.</hi> Zürich 1949.</note>: „Aller Aufschwung <lb n="pwe_134.036"/> über die Geschichte wird zur Täuschung, wenn wir die Geschichte <lb n="pwe_134.037"/> verlassen. Die Grundparadoxie unserer Existenz, nur in der Welt über die <lb n="pwe_134.038"/> Welt hinaus leben zu können, wiederholt sich im geschichtlichen Bewußtsein, <lb n="pwe_134.039"/> das sich über die Geschichte erhebt.“</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [134/0140]
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„Diätkur“. Wolfgang Kayser schließt die Literaturgeschichte aus pwe_134.002
dem Kreis der Literaturwissenschaft aus, und selbst die ruhig abwägenden pwe_134.003
und enzyklopädistisch interessierten Verfasser der Theory of Literature pwe_134.004
räumen der „Literary History“ nur ein schmales abschließendes Kapitel ein. pwe_134.005
Man kann wohl von der schlagwortartigen communis opinio sprechen, daß pwe_134.006
Kunst als zeitlose bzw. jederzeitige in einem rangmäßigen und wesensmäßigen pwe_134.007
Sinne der Geschichte als dem Zeitlichen und Veränderlichen pwe_134.008
prinzipiell entgegengesetzt sei. Wenn in der Linguistik diachronische Sprachgeschichte pwe_134.009
und synchronische Stilistik als zwei sich bedingende Gesichtspunkte pwe_134.010
auf einander bezogen bleiben, so verführt der Werkcharakter der pwe_134.011
Dichtung in der Literaturwissenschaft zur Annahme sich ausschließender pwe_134.012
Gegensätze.
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Es wurde aber im Vorangehenden immer wieder deutlich, wie die strenge pwe_134.014
Werkinterpretation immer wieder an eine Grenze kommt, falls sie in zeitloser pwe_134.015
Unmittelbarkeit den Charakter der Geschichtlichkeit des Werks übersieht, pwe_134.016
die „geheimnisvolle Verschränkung von Geschichtlichkeit und Ursprünglichkeit“ pwe_134.017
(W. Emrich, vgl. oben S. 105). Als Sprachwerk lebt das pwe_134.018
Gedicht aus der geschichtlich gewordenen Konvention außerdichterischer pwe_134.019
Sprache und kehrt wieder in diese zurück; Gattungen, genauer „Arten“ pwe_134.020
erweisen sich als überlieferte, geschichtliche Formschemata. Die einzelnen pwe_134.021
Aspekte haben selbst ihre Geschichte: eine Vers- oder Strophenform ist pwe_134.022
jenseits aller konkreten Stilfunktion im Einzelwerk ein selbständiges Gebilde; pwe_134.023
die dichterische Symbolwelt bedarf, wie Emrich zeigt, einer genetischen pwe_134.024
Entfaltung; dichterische „Gehalte“, „Ideen“ usw. führen ein gewisses pwe_134.025
Eigenleben. Stilzüge wie der Rhythmus oder sonst eine „Haltung“ beziehen pwe_134.026
sich weniger auf das Werk als auf übergeordnete Einheiten des Personalstils pwe_134.027
oder des Nationalstils. Selbst die Wertung ist geschichtlich bedingt – pwe_134.028
nicht nur durch den immer eingeengten Standort des Wertenden selbst, pwe_134.029
sondern durch den Stellenwert (z. B. die Neuheit, die Originalität), den pwe_134.030
ein Werk kraft seiner Datierung in einem übergeordneten literarischen Zusammenhang pwe_134.031
besitzt. Als „Transsubstantiation“ und „Transfiguration“ pwe_134.032
(Ernst Wolff) ist das Kunstwerk wesentlich mehr als nur Kunstwerk, pwe_134.033
es transzendiert sich selbst: der lezte Grund wohl auch für die Unvermeidbarkeit pwe_134.034
des Form-Inhalt-Schemas. Es gilt auch vom Kunstwerk, was Karl pwe_134.035
Jaspers für das menschliche Dasein überhaupt formuliert 1: „Aller Aufschwung pwe_134.036
über die Geschichte wird zur Täuschung, wenn wir die Geschichte pwe_134.037
verlassen. Die Grundparadoxie unserer Existenz, nur in der Welt über die pwe_134.038
Welt hinaus leben zu können, wiederholt sich im geschichtlichen Bewußtsein, pwe_134.039
das sich über die Geschichte erhebt.“
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Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zürich 1949.
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