Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_106.001 Die gedankliche Welt pwe_106.002Die heutige Literaturwissenschaft ist nicht nur gegen jede "Stoffhuberei" pwe_106.003 Dennoch scheut man davor zurück, das gedanklich-ideelle Moment nun pwe_106.018 pwe_106.001 Die gedankliche Welt pwe_106.002Die heutige Literaturwissenschaft ist nicht nur gegen jede „Stoffhuberei“ pwe_106.003 Dennoch scheut man davor zurück, das gedanklich-ideelle Moment nun pwe_106.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0112" n="106"/> <lb n="pwe_106.001"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Die gedankliche Welt</hi> </hi> </p> <lb n="pwe_106.002"/> <p>Die heutige Literaturwissenschaft ist nicht nur gegen jede „Stoffhuberei“ <lb n="pwe_106.003"/> des Positivismus, sondern auch gegen jede „Sinnhuberei“ des Idealismus <lb n="pwe_106.004"/> kritisch eingestellt. Im Rahmen des Werkganzen kann die <hi rendition="#g">gedankliche</hi> <lb n="pwe_106.005"/> Sphäre – Sinn, Tendenz, Problem, Idee, Gehalt – wieder nur als Stilelement, <lb n="pwe_106.006"/> als Aspekt in Erscheinung treten; jede Herauslösung bedeutet eine <lb n="pwe_106.007"/> willkürliche Abstraktion, die den einzigen Sinn des Gedichts: das Gedicht <lb n="pwe_106.008"/> verfehlt, ja den herauslösbaren Gedanken vielleicht selber notwendig verfälscht. <lb n="pwe_106.009"/> Der gedankliche Sinn eines Liebesgedichts wäre meist eine höchst <lb n="pwe_106.010"/> banale und gegenstandslose Mitteilung, und selbst noch bei einer Tragödie <lb n="pwe_106.011"/> kann das Suchen nach einer These des Dichters, etwa über die Schuld des <lb n="pwe_106.012"/> Helden, zu den abwegigsten Theorien führen. Und so ist es wohltätig, <lb n="pwe_106.013"/> wenn <hi rendition="#k">Emil Staiger</hi> an einer Kleistnovelle gezeigt hat, daß ein Werk <lb n="pwe_106.014"/> banalsten moralischen Gehalts, eine bloße „Schauermär“, doch kraft seiner <lb n="pwe_106.015"/> zwingenden „reinen Form“, d. h seines Stils, ein vollendetes Kunstwerk <lb n="pwe_106.016"/> sein kann.</p> <lb n="pwe_106.017"/> <p> Dennoch scheut man davor zurück, das gedanklich-ideelle Moment nun <lb n="pwe_106.018"/> wieder zum bloßen und fakultativen Teilaspekt unter andern zu reduzieren. <lb n="pwe_106.019"/> Als Sprachwerk wird jede Dichtung nicht nur Dasein, sondern Bewußtsein <lb n="pwe_106.020"/> und Erkenntnis, nicht nur Werk, sondern auch Wirken, nicht nur Anschauung, <lb n="pwe_106.021"/> sondern auch Ausdruck und Mitteilung sein. Der <hi rendition="#g">Gedanke</hi> <lb n="pwe_106.022"/> wird nicht nur als denkerischer Stil, sondern auch in ausdrücklicher gedanklicher <lb n="pwe_106.023"/> Stellungnahme sich kundtun zu den „Problemen“, die mit der Wahl <lb n="pwe_106.024"/> und Führung der Handlung, der Personen, der Umwelt zusammenhängen <lb n="pwe_106.025"/> und insgesamt u. U. eine ausdrückliche „Tendenz“, eine „These“ ergeben <lb n="pwe_106.026"/> – vielleicht sogar so, daß darin das eigentlichste Anliegen erscheint: z. B. <lb n="pwe_106.027"/> der römische Reichsgedanke bei Vergil, die Heilsgeschichte bei Dante, der <lb n="pwe_106.028"/> Vergänglichkeitsgedanke bei Walther v. d. Vogelweide, der Kampf gegen <lb n="pwe_106.029"/> die Kurpfuscherei bei Gotthelf. Sofern diese „<hi rendition="#g">Probleme</hi>“ im Sinn der <lb n="pwe_106.030"/> Problemgeschichte <hi rendition="#k">Rudolf Ungers</hi> allgemeinmenschliche, die Gesamtheit <lb n="pwe_106.031"/> des Daseins betreffende sind wie Liebe oder Tod, führt ihre Behandlung <lb n="pwe_106.032"/> auf dahinterliegende „weltanschauliche Haltungen“. Innerhalb des Werks <lb n="pwe_106.033"/> erscheinen sie damit freilich auch wieder zurückbezogen auf einen gemeinsamen <lb n="pwe_106.034"/> Nenner, der als jenseitige, irrationale, lebendige „<hi rendition="#g">Idee</hi>“ das organisierende <lb n="pwe_106.035"/> Prinzip der Dichtung selbst ist, der „Augenpunkt der perspektivischen <lb n="pwe_106.036"/> Ordnung“ (Petersen), und sich damit wieder dem Begriffe des <lb n="pwe_106.037"/> Stils nähert. So basiert <hi rendition="#k">Fritz Strichs</hi> Typologie der Stile auf den zwei <lb n="pwe_106.038"/> polaren Lösungen, auf die die „Idee“ der Ewigkeit, der menschliche Wille <lb n="pwe_106.039"/> zur Verewigung aus der Problematik von Leben und Tod heraus, zustreben <lb n="pwe_106.040"/> kann.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [106/0112]
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Die gedankliche Welt
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Die heutige Literaturwissenschaft ist nicht nur gegen jede „Stoffhuberei“ pwe_106.003
des Positivismus, sondern auch gegen jede „Sinnhuberei“ des Idealismus pwe_106.004
kritisch eingestellt. Im Rahmen des Werkganzen kann die gedankliche pwe_106.005
Sphäre – Sinn, Tendenz, Problem, Idee, Gehalt – wieder nur als Stilelement, pwe_106.006
als Aspekt in Erscheinung treten; jede Herauslösung bedeutet eine pwe_106.007
willkürliche Abstraktion, die den einzigen Sinn des Gedichts: das Gedicht pwe_106.008
verfehlt, ja den herauslösbaren Gedanken vielleicht selber notwendig verfälscht. pwe_106.009
Der gedankliche Sinn eines Liebesgedichts wäre meist eine höchst pwe_106.010
banale und gegenstandslose Mitteilung, und selbst noch bei einer Tragödie pwe_106.011
kann das Suchen nach einer These des Dichters, etwa über die Schuld des pwe_106.012
Helden, zu den abwegigsten Theorien führen. Und so ist es wohltätig, pwe_106.013
wenn Emil Staiger an einer Kleistnovelle gezeigt hat, daß ein Werk pwe_106.014
banalsten moralischen Gehalts, eine bloße „Schauermär“, doch kraft seiner pwe_106.015
zwingenden „reinen Form“, d. h seines Stils, ein vollendetes Kunstwerk pwe_106.016
sein kann.
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Dennoch scheut man davor zurück, das gedanklich-ideelle Moment nun pwe_106.018
wieder zum bloßen und fakultativen Teilaspekt unter andern zu reduzieren. pwe_106.019
Als Sprachwerk wird jede Dichtung nicht nur Dasein, sondern Bewußtsein pwe_106.020
und Erkenntnis, nicht nur Werk, sondern auch Wirken, nicht nur Anschauung, pwe_106.021
sondern auch Ausdruck und Mitteilung sein. Der Gedanke pwe_106.022
wird nicht nur als denkerischer Stil, sondern auch in ausdrücklicher gedanklicher pwe_106.023
Stellungnahme sich kundtun zu den „Problemen“, die mit der Wahl pwe_106.024
und Führung der Handlung, der Personen, der Umwelt zusammenhängen pwe_106.025
und insgesamt u. U. eine ausdrückliche „Tendenz“, eine „These“ ergeben pwe_106.026
– vielleicht sogar so, daß darin das eigentlichste Anliegen erscheint: z. B. pwe_106.027
der römische Reichsgedanke bei Vergil, die Heilsgeschichte bei Dante, der pwe_106.028
Vergänglichkeitsgedanke bei Walther v. d. Vogelweide, der Kampf gegen pwe_106.029
die Kurpfuscherei bei Gotthelf. Sofern diese „Probleme“ im Sinn der pwe_106.030
Problemgeschichte Rudolf Ungers allgemeinmenschliche, die Gesamtheit pwe_106.031
des Daseins betreffende sind wie Liebe oder Tod, führt ihre Behandlung pwe_106.032
auf dahinterliegende „weltanschauliche Haltungen“. Innerhalb des Werks pwe_106.033
erscheinen sie damit freilich auch wieder zurückbezogen auf einen gemeinsamen pwe_106.034
Nenner, der als jenseitige, irrationale, lebendige „Idee“ das organisierende pwe_106.035
Prinzip der Dichtung selbst ist, der „Augenpunkt der perspektivischen pwe_106.036
Ordnung“ (Petersen), und sich damit wieder dem Begriffe des pwe_106.037
Stils nähert. So basiert Fritz Strichs Typologie der Stile auf den zwei pwe_106.038
polaren Lösungen, auf die die „Idee“ der Ewigkeit, der menschliche Wille pwe_106.039
zur Verewigung aus der Problematik von Leben und Tod heraus, zustreben pwe_106.040
kann.
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