Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903]. (Die Gräfin Geschwitz tritt ein. Sie ist in ärmlicher Kleidung und trägt eine Leinwandrolle in der Hand.) Die Geschwitz. Wenn ich Dir ungelegen komme, dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings seit zehn Tagen mit keiner menschlichen Seele gesprochen. Ich muß Dir nur gleich sagen, daß ich kein Geld bekommen habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet. Schigolch. Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne ihre Füße unter unsern Tisch strecken? Lulu. Ich gehe wieder hinunter! Die Geschwitz. Wo willst Du in dem Aufzug hin? -- Ich komme trotzdem nicht mit ganz leeren Händen. Ich bringe Dir etwas anderes. Auf dem Wege hierher am Leicester Square bot mir ein Trödler noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers Herz, mich davon zu trennen. Aber Du kannst es ver- kaufen, wenn Du willst. Schigolch. Was haben Sie denn da? Alwa. Lassen Sie doch mal sehen. (Er nimmt ihr die Leinwandrolle ab und entrollt sie). Ach ja, mein Gott, das ist ja Lulus Porträt! Lulu (aufschreiend). Und das bringst Du Ungeheuer hierher? -- Schafft mir das Bild aus den Augen! Werft es zum Fenster hinaus! Alwa. Warum nicht gar! Diesem Porträt gegen- über gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so natür- lich, so selbstverständlich, so sonnenklar, was wir erlebt haben. Wer sich diesen blühenden schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig- weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns. Schigolch. Man muß es annageln. Es wird (Die Gräfin Geſchwitz tritt ein. Sie iſt in ärmlicher Kleidung und trägt eine Leinwandrolle in der Hand.) Die Geſchwitz. Wenn ich Dir ungelegen komme, dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings ſeit zehn Tagen mit keiner menſchlichen Seele geſprochen. Ich muß Dir nur gleich ſagen, daß ich kein Geld bekommen habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet. Schigolch. Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne ihre Füße unter unſern Tiſch ſtrecken? Lulu. Ich gehe wieder hinunter! Die Geſchwitz. Wo willſt Du in dem Aufzug hin? — Ich komme trotzdem nicht mit ganz leeren Händen. Ich bringe Dir etwas anderes. Auf dem Wege hierher am Leiceſter Square bot mir ein Trödler noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers Herz, mich davon zu trennen. Aber Du kannſt es ver- kaufen, wenn Du willſt. Schigolch. Was haben Sie denn da? Alwa. Laſſen Sie doch mal ſehen. (Er nimmt ihr die Leinwandrolle ab und entrollt ſie). Ach ja, mein Gott, das iſt ja Lulus Porträt! Lulu (aufſchreiend). Und das bringſt Du Ungeheuer hierher? — Schafft mir das Bild aus den Augen! Werft es zum Fenſter hinaus! Alwa. Warum nicht gar! Dieſem Porträt gegen- über gewinne ich meine Selbſtachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird ſo natür- lich, ſo ſelbſtverſtändlich, ſo ſonnenklar, was wir erlebt haben. Wer ſich dieſen blühenden ſchwellenden Lippen, dieſen großen unſchuldsvollen Kinderaugen, dieſem roſig- weißen ſtrotzenden Körper gegenüber in ſeiner bürgerlichen Stellung ſicher fühlt, der werfe den erſten Stein auf uns. Schigolch. Man muß es annageln. Es wird <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#SCH"> <pb facs="#f0080" n="72"/> <stage>(Die Gräfin Geſchwitz tritt ein. Sie iſt in ärmlicher Kleidung und<lb/> trägt eine Leinwandrolle in der Hand.)</stage> </sp><lb/> <sp who="#GES"> <speaker><hi rendition="#g">Die Geſchwitz</hi>.</speaker> <p>Wenn ich Dir ungelegen komme,<lb/> dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings ſeit zehn<lb/> Tagen mit keiner menſchlichen Seele geſprochen. Ich<lb/> muß Dir nur gleich ſagen, daß ich kein Geld bekommen<lb/> habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet.</p> </sp><lb/> <sp who="#SCH"> <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker> <p>Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne<lb/> ihre Füße unter unſern Tiſch ſtrecken?</p> </sp><lb/> <sp who="#LUL"> <speaker><hi rendition="#g">Lulu</hi>.</speaker> <p>Ich gehe wieder hinunter!</p> </sp><lb/> <sp who="#GES"> <speaker><hi rendition="#g">Die Geſchwitz</hi>.</speaker> <p>Wo willſt Du in dem Aufzug<lb/> hin? — Ich komme trotzdem nicht mit ganz leeren<lb/> Händen. Ich bringe Dir etwas anderes. Auf dem<lb/> Wege hierher am Leiceſter Square bot mir ein Trödler<lb/> noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers<lb/> Herz, mich davon zu trennen. Aber Du kannſt es ver-<lb/> kaufen, wenn Du willſt.</p> </sp><lb/> <sp who="#SCH"> <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker> <p>Was haben Sie denn da?</p> </sp><lb/> <sp who="#ALW"> <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker> <p>Laſſen Sie doch mal ſehen.</p> <stage>(Er nimmt ihr die<lb/> Leinwandrolle ab und entrollt ſie).</stage> <p>Ach ja, mein Gott, das iſt<lb/> ja Lulus Porträt!</p> </sp><lb/> <sp who="#LUL"> <speaker> <hi rendition="#g">Lulu</hi> </speaker> <stage>(aufſchreiend).</stage> <p>Und das bringſt Du Ungeheuer<lb/> hierher? — Schafft mir das Bild aus den Augen!<lb/> Werft es zum Fenſter hinaus!</p> </sp><lb/> <sp who="#ALW"> <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker> <p>Warum nicht gar! Dieſem Porträt gegen-<lb/> über gewinne ich meine Selbſtachtung wieder. Es macht<lb/> mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird ſo natür-<lb/> lich, ſo ſelbſtverſtändlich, ſo ſonnenklar, was wir erlebt<lb/> haben. Wer ſich dieſen blühenden ſchwellenden Lippen,<lb/> dieſen großen unſchuldsvollen Kinderaugen, dieſem roſig-<lb/> weißen ſtrotzenden Körper gegenüber in ſeiner bürgerlichen<lb/> Stellung ſicher fühlt, der werfe den erſten Stein auf uns.</p> </sp><lb/> <sp who="#SCH"> <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker> <p>Man muß es annageln. Es wird<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [72/0080]
(Die Gräfin Geſchwitz tritt ein. Sie iſt in ärmlicher Kleidung und
trägt eine Leinwandrolle in der Hand.)
Die Geſchwitz. Wenn ich Dir ungelegen komme,
dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings ſeit zehn
Tagen mit keiner menſchlichen Seele geſprochen. Ich
muß Dir nur gleich ſagen, daß ich kein Geld bekommen
habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet.
Schigolch. Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne
ihre Füße unter unſern Tiſch ſtrecken?
Lulu. Ich gehe wieder hinunter!
Die Geſchwitz. Wo willſt Du in dem Aufzug
hin? — Ich komme trotzdem nicht mit ganz leeren
Händen. Ich bringe Dir etwas anderes. Auf dem
Wege hierher am Leiceſter Square bot mir ein Trödler
noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers
Herz, mich davon zu trennen. Aber Du kannſt es ver-
kaufen, wenn Du willſt.
Schigolch. Was haben Sie denn da?
Alwa. Laſſen Sie doch mal ſehen. (Er nimmt ihr die
Leinwandrolle ab und entrollt ſie). Ach ja, mein Gott, das iſt
ja Lulus Porträt!
Lulu (aufſchreiend). Und das bringſt Du Ungeheuer
hierher? — Schafft mir das Bild aus den Augen!
Werft es zum Fenſter hinaus!
Alwa. Warum nicht gar! Dieſem Porträt gegen-
über gewinne ich meine Selbſtachtung wieder. Es macht
mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird ſo natür-
lich, ſo ſelbſtverſtändlich, ſo ſonnenklar, was wir erlebt
haben. Wer ſich dieſen blühenden ſchwellenden Lippen,
dieſen großen unſchuldsvollen Kinderaugen, dieſem roſig-
weißen ſtrotzenden Körper gegenüber in ſeiner bürgerlichen
Stellung ſicher fühlt, der werfe den erſten Stein auf uns.
Schigolch. Man muß es annageln. Es wird
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902/80 |
Zitationshilfe: | Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903], S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902/80>, abgerufen am 03.07.2024. |