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Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903].

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seinen nahen Tod zu ahnen. Er bat mich, mit ihr zu
tanzen, damit sie keine Tollheiten anstellte. Derweil
wandte Papa kein Auge von uns und sie sah während
des Walzers über meine Schulter weg nur nach ihm.
Nachher hat sie ihn erschossen. Es ist unglaublich.
Schigolch. Ich zweifle nur stark daran, daß noch
einer anbeißt.
Alwa. Ich möchte es auch niemandem raten!
Schigolch. Dieses Rindvieh!
Alwa. -- Sie hatte damals, obgleich sie als Weib
schon vollkommen entwickelt war, den Ausdruck eines fünf-
jährigen munteren, kerngesunden Kindes. Sie war damals
auch nur drei Jahre jünger als ich; aber wie lang ist das
nun schon her! Trotz ihrer fabelhaften Überlegenheit
in Fragen des praktischen Lebens ließ sie sich von mir
den Inhalt von "Tristan und Isolde" erklären; und wie
entzückend verstand sie sich dabei aufs Zuhören. -- Aus
dem Schwesterchen, das sich in seiner Ehe noch wie ein
Schulmädchen fühlte, wurde dann eine unglückliche hysterische
Künstlersfrau. Aus der Künstlersgattin wurde dann
die Frau meines seligen Vaters; aus der Frau meines
Vaters wurde meine Geliebte. Das ist nun einmal so
der Lauf der Welt; wer will dagegen aufkommen.
Schigolch. Wenn sie im entsprechenden Augenblick
nur nicht Reißaus nimmt und uns statt dessen einen
Obdachlosen heraufbringt, mit dem sie ihre Herzens-
geheimnisse ausgetauscht hat.
Alwa. -- Ich küßte sie zum erstenmal in ihrer
rauschenden Brauttoilette; aber nachher wußte sie nichts
mehr davon. Trotzdem glaube ich, daß sie in den Armen
meines Vaters schon an mich gedacht hat. Oft kann es
ja nicht gewesen sein. Er hatte seine Zeit hinter sich
und sie betrog ihn mit Kutscher und Stiefelputzer. Aber
5*
ſeinen nahen Tod zu ahnen. Er bat mich, mit ihr zu
tanzen, damit ſie keine Tollheiten anſtellte. Derweil
wandte Papa kein Auge von uns und ſie ſah während
des Walzers über meine Schulter weg nur nach ihm.
Nachher hat ſie ihn erſchoſſen. Es iſt unglaublich.
Schigolch. Ich zweifle nur ſtark daran, daß noch
einer anbeißt.
Alwa. Ich möchte es auch niemandem raten!
Schigolch. Dieſes Rindvieh!
Alwa. — Sie hatte damals, obgleich ſie als Weib
ſchon vollkommen entwickelt war, den Ausdruck eines fünf-
jährigen munteren, kerngeſunden Kindes. Sie war damals
auch nur drei Jahre jünger als ich; aber wie lang iſt das
nun ſchon her! Trotz ihrer fabelhaften Überlegenheit
in Fragen des praktiſchen Lebens ließ ſie ſich von mir
den Inhalt von „Triſtan und Iſolde“ erklären; und wie
entzückend verſtand ſie ſich dabei aufs Zuhören. — Aus
dem Schweſterchen, das ſich in ſeiner Ehe noch wie ein
Schulmädchen fühlte, wurde dann eine unglückliche hyſteriſche
Künſtlersfrau. Aus der Künſtlersgattin wurde dann
die Frau meines ſeligen Vaters; aus der Frau meines
Vaters wurde meine Geliebte. Das iſt nun einmal ſo
der Lauf der Welt; wer will dagegen aufkommen.
Schigolch. Wenn ſie im entſprechenden Augenblick
nur nicht Reißaus nimmt und uns ſtatt deſſen einen
Obdachloſen heraufbringt, mit dem ſie ihre Herzens-
geheimniſſe ausgetauſcht hat.
Alwa. — Ich küßte ſie zum erſtenmal in ihrer
rauſchenden Brauttoilette; aber nachher wußte ſie nichts
mehr davon. Trotzdem glaube ich, daß ſie in den Armen
meines Vaters ſchon an mich gedacht hat. Oft kann es
ja nicht geweſen ſein. Er hatte ſeine Zeit hinter ſich
und ſie betrog ihn mit Kutſcher und Stiefelputzer. Aber
5*
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[67/0075] ſeinen nahen Tod zu ahnen. Er bat mich, mit ihr zu tanzen, damit ſie keine Tollheiten anſtellte. Derweil wandte Papa kein Auge von uns und ſie ſah während des Walzers über meine Schulter weg nur nach ihm. Nachher hat ſie ihn erſchoſſen. Es iſt unglaublich. Schigolch. Ich zweifle nur ſtark daran, daß noch einer anbeißt. Alwa. Ich möchte es auch niemandem raten! Schigolch. Dieſes Rindvieh! Alwa. — Sie hatte damals, obgleich ſie als Weib ſchon vollkommen entwickelt war, den Ausdruck eines fünf- jährigen munteren, kerngeſunden Kindes. Sie war damals auch nur drei Jahre jünger als ich; aber wie lang iſt das nun ſchon her! Trotz ihrer fabelhaften Überlegenheit in Fragen des praktiſchen Lebens ließ ſie ſich von mir den Inhalt von „Triſtan und Iſolde“ erklären; und wie entzückend verſtand ſie ſich dabei aufs Zuhören. — Aus dem Schweſterchen, das ſich in ſeiner Ehe noch wie ein Schulmädchen fühlte, wurde dann eine unglückliche hyſteriſche Künſtlersfrau. Aus der Künſtlersgattin wurde dann die Frau meines ſeligen Vaters; aus der Frau meines Vaters wurde meine Geliebte. Das iſt nun einmal ſo der Lauf der Welt; wer will dagegen aufkommen. Schigolch. Wenn ſie im entſprechenden Augenblick nur nicht Reißaus nimmt und uns ſtatt deſſen einen Obdachloſen heraufbringt, mit dem ſie ihre Herzens- geheimniſſe ausgetauſcht hat. Alwa. — Ich küßte ſie zum erſtenmal in ihrer rauſchenden Brauttoilette; aber nachher wußte ſie nichts mehr davon. Trotzdem glaube ich, daß ſie in den Armen meines Vaters ſchon an mich gedacht hat. Oft kann es ja nicht geweſen ſein. Er hatte ſeine Zeit hinter ſich und ſie betrog ihn mit Kutſcher und Stiefelputzer. Aber 5*

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903], S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902/75>, abgerufen am 06.05.2024.