Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903].
Das ist der Fluch, der auf unserer jungen deutschen Literatur lastet, daß wir Dichter viel zu literarisch sind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als solche, die unter Schriftstellern und Gelehrten auftauchen. Unser Gesichtskreis reicht über die Grenzen unserer Zunftinteressen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind. In meinem "Totentanz" habe ich schon aus voller Kraft nach diesen Prinzipien zu arbeiten gesucht. Das Weib, das mir zu der Hauptfigur des Stückes Modell stehen mußte, atmet heute seit einem vollen Jahr hinter vergitterten Fenstern. Dafür wurde das Drama sonderbarer Weise allerdings auch nur von der freien literarischen Gesellschaft zur Aufführung ge- bracht. Solange mein Vater noch lebte, standen meinen Schöpfungen sämtliche Bühnen Deutschlands offen. Das hat sich gewaltig geändert. Rodrigo. Ich habe mir Trikots im zartesten Blau-Grün anfertigen lassen. Wenn die in Paris keinen Succeß haben, dann will ich Mausefallen ver- kaufen. Die Trußhöschen sind so graziös, daß ich mich damit auf keine Tischkante setzen kann. Der vorteilhafte Eindruck wird nur durch meine fürchterliche Plautze gestört, die ich meiner tätigen Mitwirkung in dieser großartigen Verschwörung zu danken habe. Bei gesunden Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das muß den heruntergekommensten Landstreicher zum Mast- schwein machen. Seit ich heraus bin, futtere ich nichts als Karlsbader Pastillen; Tag und Nacht habe ich Orchesterprobe in den Gedärmen. Bis ich nach Paris
Das iſt der Fluch, der auf unſerer jungen deutſchen Literatur laſtet, daß wir Dichter viel zu literariſch ſind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als ſolche, die unter Schriftſtellern und Gelehrten auftauchen. Unſer Geſichtskreis reicht über die Grenzen unſerer Zunftintereſſen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunſt zu gelangen, müßten wir uns möglichſt viel unter Menſchen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch geleſen haben, denen die einfachſten animaliſchen Inſtinkte bei ihren Handlungen maßgebend ſind. In meinem „Totentanz“ habe ich ſchon aus voller Kraft nach dieſen Prinzipien zu arbeiten geſucht. Das Weib, das mir zu der Hauptfigur des Stückes Modell ſtehen mußte, atmet heute ſeit einem vollen Jahr hinter vergitterten Fenſtern. Dafür wurde das Drama ſonderbarer Weiſe allerdings auch nur von der freien literariſchen Geſellſchaft zur Aufführung ge- bracht. Solange mein Vater noch lebte, ſtanden meinen Schöpfungen ſämtliche Bühnen Deutſchlands offen. Das hat ſich gewaltig geändert. Rodrigo. Ich habe mir Trikots im zarteſten Blau-Grün anfertigen laſſen. Wenn die in Paris keinen Succeß haben, dann will ich Mauſefallen ver- kaufen. Die Trußhöschen ſind ſo graziös, daß ich mich damit auf keine Tiſchkante ſetzen kann. Der vorteilhafte Eindruck wird nur durch meine fürchterliche Plautze geſtört, die ich meiner tätigen Mitwirkung in dieſer großartigen Verſchwörung zu danken habe. Bei geſunden Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das muß den heruntergekommenſten Landſtreicher zum Maſt- ſchwein machen. Seit ich heraus bin, futtere ich nichts als Karlsbader Paſtillen; Tag und Nacht habe ich Orcheſterprobe in den Gedärmen. Bis ich nach Paris <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ALW"> <p><pb facs="#f0016" n="8"/> Das iſt der Fluch, der auf unſerer jungen deutſchen<lb/> Literatur laſtet, daß wir Dichter viel zu literariſch ſind.<lb/> Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als<lb/> ſolche, die unter Schriftſtellern und Gelehrten auftauchen.<lb/> Unſer Geſichtskreis reicht über die Grenzen unſerer<lb/> Zunftintereſſen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte<lb/> einer großen gewaltigen Kunſt zu gelangen, müßten<lb/> wir uns möglichſt viel unter Menſchen bewegen, die<lb/> nie in ihrem Leben ein Buch geleſen haben, denen die<lb/> einfachſten animaliſchen Inſtinkte bei ihren Handlungen<lb/> maßgebend ſind. In meinem „Totentanz“ habe ich ſchon<lb/> aus voller Kraft <choice><sic>uach</sic><corr>nach</corr></choice> dieſen Prinzipien zu arbeiten<lb/> geſucht. Das Weib, das mir zu der Hauptfigur des<lb/> Stückes Modell ſtehen mußte, atmet heute ſeit einem<lb/> vollen Jahr hinter vergitterten Fenſtern. Dafür wurde<lb/> das Drama ſonderbarer Weiſe allerdings auch nur von<lb/> der freien literariſchen Geſellſchaft zur Aufführung ge-<lb/> bracht. Solange mein Vater noch lebte, ſtanden meinen<lb/> Schöpfungen ſämtliche Bühnen Deutſchlands offen. Das<lb/> hat ſich gewaltig geändert.</p> </sp><lb/> <sp who="#ROD"> <speaker><hi rendition="#g">Rodrigo</hi>.</speaker> <p>Ich habe mir Trikots im zarteſten<lb/> Blau-Grün anfertigen laſſen. Wenn die in Paris<lb/> keinen Succeß haben, dann will ich Mauſefallen ver-<lb/> kaufen. Die Trußhöschen ſind ſo graziös, daß ich mich<lb/> damit auf keine Tiſchkante ſetzen kann. Der vorteilhafte<lb/> Eindruck wird nur durch meine fürchterliche Plautze<lb/> geſtört, die ich meiner tätigen Mitwirkung in dieſer<lb/> großartigen Verſchwörung zu danken habe. Bei geſunden<lb/> Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das<lb/> muß den heruntergekommenſten Landſtreicher zum Maſt-<lb/> ſchwein machen. Seit ich heraus bin, futtere ich nichts<lb/> als Karlsbader Paſtillen; Tag und Nacht habe ich<lb/> Orcheſterprobe in den Gedärmen. Bis ich nach Paris<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [8/0016]
Das iſt der Fluch, der auf unſerer jungen deutſchen
Literatur laſtet, daß wir Dichter viel zu literariſch ſind.
Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als
ſolche, die unter Schriftſtellern und Gelehrten auftauchen.
Unſer Geſichtskreis reicht über die Grenzen unſerer
Zunftintereſſen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte
einer großen gewaltigen Kunſt zu gelangen, müßten
wir uns möglichſt viel unter Menſchen bewegen, die
nie in ihrem Leben ein Buch geleſen haben, denen die
einfachſten animaliſchen Inſtinkte bei ihren Handlungen
maßgebend ſind. In meinem „Totentanz“ habe ich ſchon
aus voller Kraft nach dieſen Prinzipien zu arbeiten
geſucht. Das Weib, das mir zu der Hauptfigur des
Stückes Modell ſtehen mußte, atmet heute ſeit einem
vollen Jahr hinter vergitterten Fenſtern. Dafür wurde
das Drama ſonderbarer Weiſe allerdings auch nur von
der freien literariſchen Geſellſchaft zur Aufführung ge-
bracht. Solange mein Vater noch lebte, ſtanden meinen
Schöpfungen ſämtliche Bühnen Deutſchlands offen. Das
hat ſich gewaltig geändert.
Rodrigo. Ich habe mir Trikots im zarteſten
Blau-Grün anfertigen laſſen. Wenn die in Paris
keinen Succeß haben, dann will ich Mauſefallen ver-
kaufen. Die Trußhöschen ſind ſo graziös, daß ich mich
damit auf keine Tiſchkante ſetzen kann. Der vorteilhafte
Eindruck wird nur durch meine fürchterliche Plautze
geſtört, die ich meiner tätigen Mitwirkung in dieſer
großartigen Verſchwörung zu danken habe. Bei geſunden
Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das
muß den heruntergekommenſten Landſtreicher zum Maſt-
ſchwein machen. Seit ich heraus bin, futtere ich nichts
als Karlsbader Paſtillen; Tag und Nacht habe ich
Orcheſterprobe in den Gedärmen. Bis ich nach Paris
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