Jch begreife, Theodor, wie die Griechen schöne Knaben und Jünglinge lieben konnten.
Denk' an die süße Trunkenheit, womit das Vollgefühl der unendlichen Lebensgluht ewig keim- ender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen Schönheit ein zart empfindendes Gemüth überschüt- tet. Und gibt's in unserm rauhen Norden Geister, die so vom Gefühl der heil'gen Naturschöne über- wältigt werden, wie allmächtig war diese Empfin- dung unter dem sonnigen Himmel jenes glücklichsten der Völker, dessen Einheit mit dem Naturgeist, des- sen zart empfänglicher Sinn für jede Berührung der stummlebendigen Welt jene Orgien, jene Ora- kel, jener geheimnißvolle Ceresdienst und jene tau- send Mysterien bezeugen, von denen uns kaum noch eine matte Ahnung in düstern und unheimlichen Phänomenen zurückblieb. Diese schöpferische Herr- lichkeit und Blütenfülle der beseelten Natur war es, was die Griechen aus der Schönheit männlicher Jugend mit unwiderstehlicher Gewalt aussprach. Es war eine wunderbare, anbetende Liebe.
Phaethon an Theodor.
Jch begreife, Theodor, wie die Griechen ſchoͤne Knaben und Juͤnglinge lieben konnten.
Denk’ an die ſuͤße Trunkenheit, womit das Vollgefuͤhl der unendlichen Lebensgluht ewig keim- ender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen Schoͤnheit ein zart empfindendes Gemuͤth uͤberſchuͤt- tet. Und gibt’s in unſerm rauhen Norden Geiſter, die ſo vom Gefuͤhl der heil’gen Naturſchoͤne uͤber- waͤltigt werden, wie allmaͤchtig war dieſe Empfin- dung unter dem ſonnigen Himmel jenes gluͤcklichſten der Voͤlker, deſſen Einheit mit dem Naturgeiſt, deſ- ſen zart empfaͤnglicher Sinn fuͤr jede Beruͤhrung der ſtummlebendigen Welt jene Orgien, jene Ora- kel, jener geheimnißvolle Ceresdienſt und jene tau- ſend Myſterien bezeugen, von denen uns kaum noch eine matte Ahnung in duͤſtern und unheimlichen Phaͤnomenen zuruͤckblieb. Dieſe ſchoͤpferiſche Herr- lichkeit und Bluͤtenfuͤlle der beſeelten Natur war es, was die Griechen aus der Schoͤnheit maͤnnlicher Jugend mit unwiderſtehlicher Gewalt ausſprach. Es war eine wunderbare, anbetende Liebe.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0030"n="20"/><divn="3"><head><hirendition="#g">Phaethon an Theodor.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>ch begreife, Theodor, wie die Griechen ſchoͤne<lb/>
Knaben und Juͤnglinge lieben konnten.</p><lb/><p>Denk’ an die ſuͤße Trunkenheit, womit das<lb/>
Vollgefuͤhl der unendlichen Lebensgluht ewig keim-<lb/>
ender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen<lb/>
Schoͤnheit ein zart empfindendes Gemuͤth uͤberſchuͤt-<lb/>
tet. Und gibt’s in unſerm rauhen Norden Geiſter,<lb/>
die ſo vom Gefuͤhl der heil’gen Naturſchoͤne uͤber-<lb/>
waͤltigt werden, wie allmaͤchtig war dieſe Empfin-<lb/>
dung unter dem ſonnigen Himmel jenes gluͤcklichſten<lb/>
der Voͤlker, deſſen Einheit mit dem Naturgeiſt, deſ-<lb/>ſen zart empfaͤnglicher Sinn fuͤr jede Beruͤhrung<lb/>
der ſtummlebendigen Welt jene Orgien, jene Ora-<lb/>
kel, jener geheimnißvolle Ceresdienſt und jene tau-<lb/>ſend Myſterien bezeugen, von denen uns kaum noch<lb/>
eine matte Ahnung in duͤſtern und unheimlichen<lb/>
Phaͤnomenen zuruͤckblieb. Dieſe ſchoͤpferiſche Herr-<lb/>
lichkeit und Bluͤtenfuͤlle der beſeelten Natur war es,<lb/>
was die Griechen aus der Schoͤnheit maͤnnlicher<lb/>
Jugend mit unwiderſtehlicher Gewalt ausſprach.<lb/>
Es war eine wunderbare, anbetende Liebe.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[20/0030]
Phaethon an Theodor.
Jch begreife, Theodor, wie die Griechen ſchoͤne
Knaben und Juͤnglinge lieben konnten.
Denk’ an die ſuͤße Trunkenheit, womit das
Vollgefuͤhl der unendlichen Lebensgluht ewig keim-
ender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen
Schoͤnheit ein zart empfindendes Gemuͤth uͤberſchuͤt-
tet. Und gibt’s in unſerm rauhen Norden Geiſter,
die ſo vom Gefuͤhl der heil’gen Naturſchoͤne uͤber-
waͤltigt werden, wie allmaͤchtig war dieſe Empfin-
dung unter dem ſonnigen Himmel jenes gluͤcklichſten
der Voͤlker, deſſen Einheit mit dem Naturgeiſt, deſ-
ſen zart empfaͤnglicher Sinn fuͤr jede Beruͤhrung
der ſtummlebendigen Welt jene Orgien, jene Ora-
kel, jener geheimnißvolle Ceresdienſt und jene tau-
ſend Myſterien bezeugen, von denen uns kaum noch
eine matte Ahnung in duͤſtern und unheimlichen
Phaͤnomenen zuruͤckblieb. Dieſe ſchoͤpferiſche Herr-
lichkeit und Bluͤtenfuͤlle der beſeelten Natur war es,
was die Griechen aus der Schoͤnheit maͤnnlicher
Jugend mit unwiderſtehlicher Gewalt ausſprach.
Es war eine wunderbare, anbetende Liebe.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/30>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.