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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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Und ist die männliche Jugend-Schönheit im
Glanze der Thatkraft und der Freyheit nicht mehr,
als die Pflanzennatur des Weibes, die größten-
theils doch nur das Bedürfniß mit ihren Reitzen
überkleidet?

Sieh den Bachus an, den jugendlichen Gott
der schaffenden Natur! Wie eine Jungfrau, senkt er
schmachtend die üppigvollen Augen nieder; die zar-
ten Glieder schwellen, wie die Trauben, die seine
reichen Locken kränzen, und rein und blühend ist
die Schönheit über all' sein Wesen wie ein Einz'ger
linder Hauch gegossen.

Das Leben der griechischen Jünglinge war wie
ein ew'ger Kuß. Begreifst du, wie man einen
Kuß von Chamoleos um zwey Talente bezahlte?

Mich dünkt, der Hypolytos des Euripides
kläre darüber auch die dümmsten Köpfe auf. Jn
diesem heil'gen Gemüth spiegelt sich der Aether ab,
der reine, wolkenlose. Er ist schön, wie der Mond,
und keusch, wie seine Göttin. Jhr ist sein Busen
nur geheiligt, und der Mädchen liebeschmachten-
des Auge übersehend, zieht er mit Genossen und
Hunden jagend durch die Wälder. Er ist eine
männliche Artemis.

Und iſt die maͤnnliche Jugend-Schoͤnheit im
Glanze der Thatkraft und der Freyheit nicht mehr,
als die Pflanzennatur des Weibes, die groͤßten-
theils doch nur das Beduͤrfniß mit ihren Reitzen
uͤberkleidet?

Sieh den Bachus an, den jugendlichen Gott
der ſchaffenden Natur! Wie eine Jungfrau, ſenkt er
ſchmachtend die uͤppigvollen Augen nieder; die zar-
ten Glieder ſchwellen, wie die Trauben, die ſeine
reichen Locken kraͤnzen, und rein und bluͤhend iſt
die Schoͤnheit uͤber all’ ſein Weſen wie ein Einz’ger
linder Hauch gegoſſen.

Das Leben der griechiſchen Juͤnglinge war wie
ein ew’ger Kuß. Begreifſt du, wie man einen
Kuß von Chamoleos um zwey Talente bezahlte?

Mich duͤnkt, der Hypolytos des Euripides
klaͤre daruͤber auch die duͤmmſten Koͤpfe auf. Jn
dieſem heil’gen Gemuͤth ſpiegelt ſich der Aether ab,
der reine, wolkenloſe. Er iſt ſchoͤn, wie der Mond,
und keuſch, wie ſeine Goͤttin. Jhr iſt ſein Buſen
nur geheiligt, und der Maͤdchen liebeſchmachten-
des Auge uͤberſehend, zieht er mit Genoſſen und
Hunden jagend durch die Waͤlder. Er iſt eine
maͤnnliche Artemis.

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[21/0031] Und iſt die maͤnnliche Jugend-Schoͤnheit im Glanze der Thatkraft und der Freyheit nicht mehr, als die Pflanzennatur des Weibes, die groͤßten- theils doch nur das Beduͤrfniß mit ihren Reitzen uͤberkleidet? Sieh den Bachus an, den jugendlichen Gott der ſchaffenden Natur! Wie eine Jungfrau, ſenkt er ſchmachtend die uͤppigvollen Augen nieder; die zar- ten Glieder ſchwellen, wie die Trauben, die ſeine reichen Locken kraͤnzen, und rein und bluͤhend iſt die Schoͤnheit uͤber all’ ſein Weſen wie ein Einz’ger linder Hauch gegoſſen. Das Leben der griechiſchen Juͤnglinge war wie ein ew’ger Kuß. Begreifſt du, wie man einen Kuß von Chamoleos um zwey Talente bezahlte? Mich duͤnkt, der Hypolytos des Euripides klaͤre daruͤber auch die duͤmmſten Koͤpfe auf. Jn dieſem heil’gen Gemuͤth ſpiegelt ſich der Aether ab, der reine, wolkenloſe. Er iſt ſchoͤn, wie der Mond, und keuſch, wie ſeine Goͤttin. Jhr iſt ſein Buſen nur geheiligt, und der Maͤdchen liebeſchmachten- des Auge uͤberſehend, zieht er mit Genoſſen und Hunden jagend durch die Waͤlder. Er iſt eine maͤnnliche Artemis.

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/31>, abgerufen am 26.04.2024.