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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

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und die Blühenden schlangen sich liebend um ihr
Gewand und küßten ihre Füße. Jhr Angesicht war
wie einziges Lied voll Wehmuth und Empfindung.
O meine Brust schwoll von Ahnung der göttlichen
Schönheit.

Ja, Atalanta, rief ich endlich begeistert aus,
die Liebe, diese wunderbare Tochter der Anmuth
und der Fülle, ist die Vermittlerinn zwischen Him-
mel und Erde, zwischen Gott und Mensch. Sie
schwillt im Busen des Betenden, und der Gott,
dem das Opfer brennt, steigt liebend zu den Men-
schen herunter.

Und wer kann's enträthseln, sagte Atalanta,
das Wesen der Liebe?

O ich fühl' es, fühl' es ganz, Atalanta, die Lie-
be ist Liebe der Schönheit und der Weisheit. Die
Liebe ist irdisch und himmlisch in Einem. Die Har-
monie der Schöpfung beseelt der Geist der Venus
Urania und die hohe mutterlose Tochter des Him-
mels schwebt wie eine ewige Morgenröthe, über der
himmlischen Welt. Aus ihrem Auge träufelt, wie
eine große Thräne, die Liebe zu Gott und zum
Guten und die göttliche Begeisterung, wenn der
Mensch, wie Berg und Luft in der Ferne, zusam-

und die Bluͤhenden ſchlangen ſich liebend um ihr
Gewand und kuͤßten ihre Fuͤße. Jhr Angeſicht war
wie einziges Lied voll Wehmuth und Empfindung.
O meine Bruſt ſchwoll von Ahnung der goͤttlichen
Schoͤnheit.

Ja, Atalanta, rief ich endlich begeiſtert aus,
die Liebe, dieſe wunderbare Tochter der Anmuth
und der Fuͤlle, iſt die Vermittlerinn zwiſchen Him-
mel und Erde, zwiſchen Gott und Menſch. Sie
ſchwillt im Buſen des Betenden, und der Gott,
dem das Opfer brennt, ſteigt liebend zu den Men-
ſchen herunter.

Und wer kann’s entraͤthſeln, ſagte Atalanta,
das Weſen der Liebe?

O ich fuͤhl’ es, fuͤhl’ es ganz, Atalanta, die Lie-
be iſt Liebe der Schoͤnheit und der Weisheit. Die
Liebe iſt irdiſch und himmliſch in Einem. Die Har-
monie der Schoͤpfung beſeelt der Geiſt der Venus
Urania und die hohe mutterloſe Tochter des Him-
mels ſchwebt wie eine ewige Morgenroͤthe, uͤber der
himmliſchen Welt. Aus ihrem Auge traͤufelt, wie
eine große Thraͤne, die Liebe zu Gott und zum
Guten und die goͤttliche Begeiſterung, wenn der
Menſch, wie Berg und Luft in der Ferne, zuſam-

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[111/0121] und die Bluͤhenden ſchlangen ſich liebend um ihr Gewand und kuͤßten ihre Fuͤße. Jhr Angeſicht war wie einziges Lied voll Wehmuth und Empfindung. O meine Bruſt ſchwoll von Ahnung der goͤttlichen Schoͤnheit. Ja, Atalanta, rief ich endlich begeiſtert aus, die Liebe, dieſe wunderbare Tochter der Anmuth und der Fuͤlle, iſt die Vermittlerinn zwiſchen Him- mel und Erde, zwiſchen Gott und Menſch. Sie ſchwillt im Buſen des Betenden, und der Gott, dem das Opfer brennt, ſteigt liebend zu den Men- ſchen herunter. Und wer kann’s entraͤthſeln, ſagte Atalanta, das Weſen der Liebe? O ich fuͤhl’ es, fuͤhl’ es ganz, Atalanta, die Lie- be iſt Liebe der Schoͤnheit und der Weisheit. Die Liebe iſt irdiſch und himmliſch in Einem. Die Har- monie der Schoͤpfung beſeelt der Geiſt der Venus Urania und die hohe mutterloſe Tochter des Him- mels ſchwebt wie eine ewige Morgenroͤthe, uͤber der himmliſchen Welt. Aus ihrem Auge traͤufelt, wie eine große Thraͤne, die Liebe zu Gott und zum Guten und die goͤttliche Begeiſterung, wenn der Menſch, wie Berg und Luft in der Ferne, zuſam-

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/121>, abgerufen am 08.05.2024.