schaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬ sen. Wie der Inhalt des gemeinsamen Mythus und der Religion als Gegenstand der darstellenden dramatischen Kunst nach dichterischer Deutung und Absicht, endlich nach eigensüchtig dichterischer Willkür, bereits umgewandelt, verwendet und gar entstellt wurde, war der religiöse Glaube aber auch schon vollständig aus dem Leben der, nur noch politisch mit einander verketteten Volksgenossen¬ schaft verschwunden. Dieser Glaube, die Verehrung der Götter, die sichere Annahme von der Wahrheit der alten Geschlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der Gemeinsamkeit ausgemacht: war es nun zerrissen und als Aberglaube verspottet, so war damit allerdings der unleug¬ bare Inhalt dieser Religion als unbedingter, wirklicher, nackter Mensch zum Vorschein gekommen; dieser Mensch war aber nicht mehr der gemeinsame, von jenem Bande zur Geschlechtsgenossenschaft vereinte, sondern der egoi¬ stische, absolute, einzelne Mensch, -- nackt und schön, aber losgelöst aus dem schönen Bunde der Gemein¬ samkeit.
Von hier ab, von der Zerstörung der griechischen Religion, von der Zertrümmerung des griechischen Natur¬ staates und seiner Auflösung in den politischen Staat, -- von der Zersplitterung des gemeinsamen tragischen Kunstwerkes, -- beginnt für die weltgeschichtliche Menschheit
ſchaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬ ſen. Wie der Inhalt des gemeinſamen Mythus und der Religion als Gegenſtand der darſtellenden dramatiſchen Kunſt nach dichteriſcher Deutung und Abſicht, endlich nach eigenſüchtig dichteriſcher Willkür, bereits umgewandelt, verwendet und gar entſtellt wurde, war der religiöſe Glaube aber auch ſchon vollſtändig aus dem Leben der, nur noch politiſch mit einander verketteten Volksgenoſſen¬ ſchaft verſchwunden. Dieſer Glaube, die Verehrung der Götter, die ſichere Annahme von der Wahrheit der alten Geſchlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der Gemeinſamkeit ausgemacht: war es nun zerriſſen und als Aberglaube verſpottet, ſo war damit allerdings der unleug¬ bare Inhalt dieſer Religion als unbedingter, wirklicher, nackter Menſch zum Vorſchein gekommen; dieſer Menſch war aber nicht mehr der gemeinſame, von jenem Bande zur Geſchlechtsgenoſſenſchaft vereinte, ſondern der egoi¬ ſtiſche, abſolute, einzelne Menſch, — nackt und ſchön, aber losgelöſt aus dem ſchönen Bunde der Gemein¬ ſamkeit.
Von hier ab, von der Zerſtörung der griechiſchen Religion, von der Zertrümmerung des griechiſchen Natur¬ ſtaates und ſeiner Auflöſung in den politiſchen Staat, — von der Zerſplitterung des gemeinſamen tragiſchen Kunſtwerkes, — beginnt für die weltgeſchichtliche Menſchheit
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ſchaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬
ſen. Wie der Inhalt des gemeinſamen Mythus und der
Religion als Gegenſtand der darſtellenden dramatiſchen
Kunſt nach dichteriſcher Deutung und Abſicht, endlich nach
eigenſüchtig dichteriſcher Willkür, bereits umgewandelt,
verwendet und gar entſtellt wurde, war der religiöſe
Glaube aber auch ſchon vollſtändig aus dem Leben der,
nur noch politiſch mit einander verketteten Volksgenoſſen¬
ſchaft verſchwunden. Dieſer Glaube, die Verehrung der
Götter, die ſichere Annahme von der Wahrheit der alten
Geſchlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der
Gemeinſamkeit ausgemacht: war es nun zerriſſen und als
Aberglaube verſpottet, ſo war damit allerdings der unleug¬
bare Inhalt dieſer Religion als unbedingter, wirklicher,
nackter Menſch zum Vorſchein gekommen; dieſer Menſch
war aber nicht mehr der gemeinſame, von jenem Bande
zur Geſchlechtsgenoſſenſchaft vereinte, ſondern der egoi¬
ſtiſche, abſolute, einzelne Menſch, — nackt und
ſchön, aber losgelöſt aus dem ſchönen Bunde der Gemein¬
ſamkeit.
Von hier ab, von der Zerſtörung der griechiſchen
Religion, von der Zertrümmerung des griechiſchen Natur¬
ſtaates und ſeiner Auflöſung in den politiſchen Staat,
— von der Zerſplitterung des gemeinſamen tragiſchen
Kunſtwerkes, — beginnt für die weltgeſchichtliche Menſchheit
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/173>, abgerufen am 24.07.2024.
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