lyrische wie das dramatische Kunstwerk war ein religiöser Akt: bereits aber gab sich in diesem Akte, der ursprünglichen einfachen religiösen Feier gegenüber gehalten, ein gleichsam künstliches Bestreben kund, nämlich das Bestreben, willkürlich und absichtlich diejenige gemeinschaftliche Erinnerung sich vor¬ zuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar lebendigem Eindrucke schon verloren hatte. Die Tragödie war somit die zum Kunstwerke gewordene religiöse Feier, neben welcher die herkömmlich fortgesetzte wirkliche religiöse Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit in dem Grade einbüßte, daß sie eben zur gedankenlosen her¬ kömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunst¬ werke fortlebte.
In der höchst wichtigen Aeußerlichkeit des religiösen Aktes stellt sich die Geschlechtsgenossenschaft unter gewissen altbedeutungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen als eine gemeinschaftliche dar: das Gewand der Religion ist, so zu sagen, die Tracht des Volksstammes, an welcher er sich gemeinschaftlich und auf den ersten Blick erkennt. Dieses, durch uraltes Herkommen geheiligte Gewand, diese gewissermaßen religiös-gesellschaftliche Convention hatte sich von der religiösen Feier auf die künstlerische, die Tragödie, übergetragen: in ihm und nach ihr gab der darstellende Tragöde sich als wohlbekannte, verehrte Gestalt der Volks¬ genossenschaft kund. Keinesweges nur die Größe des
lyriſche wie das dramatiſche Kunſtwerk war ein religiöſer Akt: bereits aber gab ſich in dieſem Akte, der urſprünglichen einfachen religiöſen Feier gegenüber gehalten, ein gleichſam künſtliches Beſtreben kund, nämlich das Beſtreben, willkürlich und abſichtlich diejenige gemeinſchaftliche Erinnerung ſich vor¬ zuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar lebendigem Eindrucke ſchon verloren hatte. Die Tragödie war ſomit die zum Kunſtwerke gewordene religiöſe Feier, neben welcher die herkömmlich fortgeſetzte wirkliche religiöſe Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit in dem Grade einbüßte, daß ſie eben zur gedankenloſen her¬ kömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunſt¬ werke fortlebte.
In der höchſt wichtigen Aeußerlichkeit des religiöſen Aktes ſtellt ſich die Geſchlechtsgenoſſenſchaft unter gewiſſen altbedeutungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen als eine gemeinſchaftliche dar: das Gewand der Religion iſt, ſo zu ſagen, die Tracht des Volksſtammes, an welcher er ſich gemeinſchaftlich und auf den erſten Blick erkennt. Dieſes, durch uraltes Herkommen geheiligte Gewand, dieſe gewiſſermaßen religiös-geſellſchaftliche Convention hatte ſich von der religiöſen Feier auf die künſtleriſche, die Tragödie, übergetragen: in ihm und nach ihr gab der darſtellende Tragöde ſich als wohlbekannte, verehrte Geſtalt der Volks¬ genoſſenſchaft kund. Keinesweges nur die Größe des
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lyriſche wie das dramatiſche Kunſtwerk war ein religiöſer
Akt: bereits aber gab ſich in dieſem Akte, der urſprünglichen
einfachen religiöſen Feier gegenüber gehalten, ein gleichſam
künſtliches Beſtreben kund, nämlich das Beſtreben, willkürlich
und abſichtlich diejenige gemeinſchaftliche Erinnerung ſich vor¬
zuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar lebendigem
Eindrucke ſchon verloren hatte. Die Tragödie war ſomit
die zum Kunſtwerke gewordene religiöſe Feier, neben
welcher die herkömmlich fortgeſetzte wirkliche religiöſe
Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit in
dem Grade einbüßte, daß ſie eben zur gedankenloſen her¬
kömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunſt¬
werke fortlebte.
In der höchſt wichtigen Aeußerlichkeit des religiöſen
Aktes ſtellt ſich die Geſchlechtsgenoſſenſchaft unter gewiſſen
altbedeutungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen
als eine gemeinſchaftliche dar: das Gewand der Religion
iſt, ſo zu ſagen, die Tracht des Volksſtammes, an welcher
er ſich gemeinſchaftlich und auf den erſten Blick erkennt.
Dieſes, durch uraltes Herkommen geheiligte Gewand, dieſe
gewiſſermaßen religiös-geſellſchaftliche Convention hatte ſich
von der religiöſen Feier auf die künſtleriſche, die Tragödie,
übergetragen: in ihm und nach ihr gab der darſtellende
Tragöde ſich als wohlbekannte, verehrte Geſtalt der Volks¬
genoſſenſchaft kund. Keinesweges nur die Größe des
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/171>, abgerufen am 24.07.2024.
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