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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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meisten französischen Theatern und selbst in der Opernwelt
Italiens, eine natürlichere Aeußerung des künstlerischen Dar¬
stellungstriebes vorhanden, als dort, wo der abstrakte
Dichter dieses Triebes zu seiner Selbstverherrlichung sich
bemächtigen will. Aus jener Virtuosenwelt kann, wie die
Erfahrung so oft bewiesen hat, bei einer der künst¬
lerischen
Befähigung entsprechenden, gesunden Herzens¬
natur ein dramatischer Darsteller hervorgehen, der durch
eine einzige Leistung uns das höchste Wesen der dramatischen
Kunst deutlicher zu erschließen vermag, als hundert Kunst¬
dramen für sich. Wo hingegen die dramatische Kunstpoesie
auch für die lebendige Darstellung allein experimentiren
will, vermag sie nur Virtuosen und Publikum vollends
ganz zu verwirren, oder mit allem Eigendünkel sich in die
schmäligste Abhängigkeit zu begeben. Sie bringt entweder
nur todtgeborene Kinder zu Welt, und das ist ihre beste
Thätigkeit, denn hiermit schadet sie doch nichts, -- oder
sie impft ihre ureigene Krankheit des Wollens und
Nichtkönnens wie eine verzehrende Pest den noch halb¬
wegs gesunden Gliedern der Schauspielkunst ein. Jeden¬
falls muß sie nach den zwangvollen Gesetzen der abhängig¬
sten Unselbstständigkeit verfahren: sie muß sich, um nur
irgend welche Form zu gewinnen, überall dahin umsehen,
wo diese Form irgendwo aus der wirklich lebendigen
Schauspielkunst hervorgegangen war. Diese wird denn bei

meiſten franzöſiſchen Theatern und ſelbſt in der Opernwelt
Italiens, eine natürlichere Aeußerung des künſtleriſchen Dar¬
ſtellungstriebes vorhanden, als dort, wo der abſtrakte
Dichter dieſes Triebes zu ſeiner Selbſtverherrlichung ſich
bemächtigen will. Aus jener Virtuoſenwelt kann, wie die
Erfahrung ſo oft bewieſen hat, bei einer der künſt¬
leriſchen
Befähigung entſprechenden, geſunden Herzens¬
natur ein dramatiſcher Darſteller hervorgehen, der durch
eine einzige Leiſtung uns das höchſte Weſen der dramatiſchen
Kunſt deutlicher zu erſchließen vermag, als hundert Kunſt¬
dramen für ſich. Wo hingegen die dramatiſche Kunſtpoeſie
auch für die lebendige Darſtellung allein experimentiren
will, vermag ſie nur Virtuoſen und Publikum vollends
ganz zu verwirren, oder mit allem Eigendünkel ſich in die
ſchmäligſte Abhängigkeit zu begeben. Sie bringt entweder
nur todtgeborene Kinder zu Welt, und das iſt ihre beſte
Thätigkeit, denn hiermit ſchadet ſie doch nichts, — oder
ſie impft ihre ureigene Krankheit des Wollens und
Nichtkönnens wie eine verzehrende Peſt den noch halb¬
wegs geſunden Gliedern der Schauſpielkunſt ein. Jeden¬
falls muß ſie nach den zwangvollen Geſetzen der abhängig¬
ſten Unſelbſtſtändigkeit verfahren: ſie muß ſich, um nur
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[125/0141] meiſten franzöſiſchen Theatern und ſelbſt in der Opernwelt Italiens, eine natürlichere Aeußerung des künſtleriſchen Dar¬ ſtellungstriebes vorhanden, als dort, wo der abſtrakte Dichter dieſes Triebes zu ſeiner Selbſtverherrlichung ſich bemächtigen will. Aus jener Virtuoſenwelt kann, wie die Erfahrung ſo oft bewieſen hat, bei einer der künſt¬ leriſchen Befähigung entſprechenden, geſunden Herzens¬ natur ein dramatiſcher Darſteller hervorgehen, der durch eine einzige Leiſtung uns das höchſte Weſen der dramatiſchen Kunſt deutlicher zu erſchließen vermag, als hundert Kunſt¬ dramen für ſich. Wo hingegen die dramatiſche Kunſtpoeſie auch für die lebendige Darſtellung allein experimentiren will, vermag ſie nur Virtuoſen und Publikum vollends ganz zu verwirren, oder mit allem Eigendünkel ſich in die ſchmäligſte Abhängigkeit zu begeben. Sie bringt entweder nur todtgeborene Kinder zu Welt, und das iſt ihre beſte Thätigkeit, denn hiermit ſchadet ſie doch nichts, — oder ſie impft ihre ureigene Krankheit des Wollens und Nichtkönnens wie eine verzehrende Peſt den noch halb¬ wegs geſunden Gliedern der Schauſpielkunſt ein. Jeden¬ falls muß ſie nach den zwangvollen Geſetzen der abhängig¬ ſten Unſelbſtſtändigkeit verfahren: ſie muß ſich, um nur irgend welche Form zu gewinnen, überall dahin umſehen, wo dieſe Form irgendwo aus der wirklich lebendigen Schauſpielkunſt hervorgegangen war. Dieſe wird denn bei

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/141>, abgerufen am 26.11.2024.