Ohren mußte die tönende Herzensstimme, ihren nur nach Fraß spähenden Augen der anmuthig und kühn sich be¬ wegende menschliche Leib der Art erst imponiren, daß sie unwillkürlich in diesen Menschen nicht mehr nur ein Ob¬ jekt ihres Magens, nicht nur einen fressenswerthen, sondern auch hörens- und sehenswerthen Gegenstand erkannten, ehe sie fähig wurden, seinen moralischen Sentenzen Auf¬ merksamkeit zu schenken.
Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine etwa nur recitirte Dichtung: die Gesänge des Homeros, wie wir sie jetzt vorliegen haben, sind aus der kritisch sondern¬ den und zusammenfügenden Redaktion einer Zeit hervor¬ gegangen, in der das wahrhafte Epos bereits nicht mehr lebte. Als Solon Gesetze gab und Peisistratos eine poli¬ tische Hofhaltung einführte, suchte man bereits nach den Trümmern des untergegangenen Volksepos, und richtete sich das Gesammelte zum Gebrauch der Lektüre her -- ungefähr wie in der Hohenstaufenzeit die Bruchstücke des verlorengegangenen Nibelungenliedes. Ehe diese epischen Gesänge zum Gegenstande solcher literarischen Sorge ge¬ worden waren, hatten sie aber in dem Volke durch Stimme und Gebärde unterstützt, als leiblich dargestellte Kunstwerke geblüht, gleichsam als verdichtete, gefestigte, lyrische Ge¬ sangstänze, mit vorherrschendem Verweilen bei der Schil¬ derung der Handlung und der Wiederholung heldenhafter
Ohren mußte die tönende Herzensſtimme, ihren nur nach Fraß ſpähenden Augen der anmuthig und kühn ſich be¬ wegende menſchliche Leib der Art erſt imponiren, daß ſie unwillkürlich in dieſen Menſchen nicht mehr nur ein Ob¬ jekt ihres Magens, nicht nur einen freſſenswerthen, ſondern auch hörens- und ſehenswerthen Gegenſtand erkannten, ehe ſie fähig wurden, ſeinen moraliſchen Sentenzen Auf¬ merkſamkeit zu ſchenken.
Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine etwa nur recitirte Dichtung: die Geſänge des Homeros, wie wir ſie jetzt vorliegen haben, ſind aus der kritiſch ſondern¬ den und zuſammenfügenden Redaktion einer Zeit hervor¬ gegangen, in der das wahrhafte Epos bereits nicht mehr lebte. Als Solon Geſetze gab und Peiſiſtratos eine poli¬ tiſche Hofhaltung einführte, ſuchte man bereits nach den Trümmern des untergegangenen Volksepos, und richtete ſich das Geſammelte zum Gebrauch der Lektüre her — ungefähr wie in der Hohenſtaufenzeit die Bruchſtücke des verlorengegangenen Nibelungenliedes. Ehe dieſe epiſchen Geſänge zum Gegenſtande ſolcher literariſchen Sorge ge¬ worden waren, hatten ſie aber in dem Volke durch Stimme und Gebärde unterſtützt, als leiblich dargeſtellte Kunſtwerke geblüht, gleichſam als verdichtete, gefeſtigte, lyriſche Ge¬ ſangstänze, mit vorherrſchendem Verweilen bei der Schil¬ derung der Handlung und der Wiederholung heldenhafter
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Ohren mußte die tönende Herzensſtimme, ihren nur nach
Fraß ſpähenden Augen der anmuthig und kühn ſich be¬
wegende menſchliche Leib der Art erſt imponiren, daß ſie
unwillkürlich in dieſen Menſchen nicht mehr nur ein Ob¬
jekt ihres Magens, nicht nur einen freſſenswerthen, ſondern
auch hörens- und ſehenswerthen Gegenſtand erkannten, ehe
ſie fähig wurden, ſeinen moraliſchen Sentenzen Auf¬
merkſamkeit zu ſchenken.
Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine
etwa nur recitirte Dichtung: die Geſänge des Homeros, wie
wir ſie jetzt vorliegen haben, ſind aus der kritiſch ſondern¬
den und zuſammenfügenden Redaktion einer Zeit hervor¬
gegangen, in der das wahrhafte Epos bereits nicht mehr
lebte. Als Solon Geſetze gab und Peiſiſtratos eine poli¬
tiſche Hofhaltung einführte, ſuchte man bereits nach den
Trümmern des untergegangenen Volksepos, und richtete
ſich das Geſammelte zum Gebrauch der Lektüre her —
ungefähr wie in der Hohenſtaufenzeit die Bruchſtücke des
verlorengegangenen Nibelungenliedes. Ehe dieſe epiſchen
Geſänge zum Gegenſtande ſolcher literariſchen Sorge ge¬
worden waren, hatten ſie aber in dem Volke durch Stimme
und Gebärde unterſtützt, als leiblich dargeſtellte Kunſtwerke
geblüht, gleichſam als verdichtete, gefeſtigte, lyriſche Ge¬
ſangstänze, mit vorherrſchendem Verweilen bei der Schil¬
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/122>, abgerufen am 22.07.2024.
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