Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.Künste, denen die sinnliche Erscheinung unmittelbar ange¬ Ueberall, wo das Volk dichtete, -- und nur von Künſte, denen die ſinnliche Erſcheinung unmittelbar ange¬ Ueberall, wo das Volk dichtete, — und nur von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0121" n="105"/> Künſte, denen die ſinnliche Erſcheinung unmittelbar ange¬<lb/> hört; der Gedanke, dieſes bloße Bild oder Wollen der<lb/> Erſcheinung, iſt an ſich geſtaltlos, und erſt wenn er den<lb/> Weg wieder zurückgeht, auf dem er erzeugt wurde, kann er<lb/> zur künſtleriſchen Wahrnehmbarkeit gelangen. In der<lb/> Dichtkunſt kommt ſich die Abſicht der Kunſt überhaupt<lb/> zum Bewußtſein: die anderen Kunſtarten enthalten in ſich<lb/> aber die unbewußte Nothwendigkeit dieſer Abſicht. Die<lb/> Dichtkunſt iſt der Schöpfungsprozeß, durch den das Kunſt¬<lb/> werk in das Leben tritt: aus Nichts vermag aber nur der<lb/> Gott der Chriſten etwas zu machen, — der Dichter muß das<lb/> Etwas haben, und dieſes Etwas iſt der ganze künſtleriſche<lb/> Menſch, der in der Tanz- und Tonkunſt das zum Seelen¬<lb/> verlangen gewordene ſinnliche Verlangen kundgiebt, welches<lb/> durch ſich erſt die dichteriſche Abſicht erzeugt, in ihr ſeinen<lb/> Abſchluß, in ihrer Erreichung ſeine Befriedigung findet.</p><lb/> <p>Ueberall, wo <hi rendition="#g">das Volk</hi> dichtete, — und nur von<lb/> dem Volke oder im Sinne des Volkes, d. i. aus Noth¬<lb/> wendigkeit, kann allein wirklich gedichtet werden, — trat<lb/> auch die dichteriſche Abſicht nur auf den Schultern der<lb/> Tanz- und Tonkunſt, als <hi rendition="#g">Kopf</hi> des vollkommen vorhan¬<lb/> denen Menſchen, in das Leben. Die Lyrik des Orpheus<lb/> hätte die wilden Thiere ſicher nicht zu ſchweigender, ruhig<lb/> ſich lagernder Andacht vermocht, wenn der Sänger ihnen<lb/> etwa bloß gedruckte Gedichte zu leſen gegeben hätte: ihren<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [105/0121]
Künſte, denen die ſinnliche Erſcheinung unmittelbar ange¬
hört; der Gedanke, dieſes bloße Bild oder Wollen der
Erſcheinung, iſt an ſich geſtaltlos, und erſt wenn er den
Weg wieder zurückgeht, auf dem er erzeugt wurde, kann er
zur künſtleriſchen Wahrnehmbarkeit gelangen. In der
Dichtkunſt kommt ſich die Abſicht der Kunſt überhaupt
zum Bewußtſein: die anderen Kunſtarten enthalten in ſich
aber die unbewußte Nothwendigkeit dieſer Abſicht. Die
Dichtkunſt iſt der Schöpfungsprozeß, durch den das Kunſt¬
werk in das Leben tritt: aus Nichts vermag aber nur der
Gott der Chriſten etwas zu machen, — der Dichter muß das
Etwas haben, und dieſes Etwas iſt der ganze künſtleriſche
Menſch, der in der Tanz- und Tonkunſt das zum Seelen¬
verlangen gewordene ſinnliche Verlangen kundgiebt, welches
durch ſich erſt die dichteriſche Abſicht erzeugt, in ihr ſeinen
Abſchluß, in ihrer Erreichung ſeine Befriedigung findet.
Ueberall, wo das Volk dichtete, — und nur von
dem Volke oder im Sinne des Volkes, d. i. aus Noth¬
wendigkeit, kann allein wirklich gedichtet werden, — trat
auch die dichteriſche Abſicht nur auf den Schultern der
Tanz- und Tonkunſt, als Kopf des vollkommen vorhan¬
denen Menſchen, in das Leben. Die Lyrik des Orpheus
hätte die wilden Thiere ſicher nicht zu ſchweigender, ruhig
ſich lagernder Andacht vermocht, wenn der Sänger ihnen
etwa bloß gedruckte Gedichte zu leſen gegeben hätte: ihren
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