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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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II. VON DER POESIE IM BESONDERN.
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1. DIE EPISCHE POESIE.

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Es ist eine weit verbreitete Behauptung, dass man als die älteste pwa_042.004
Gattung der Poesie die Lyrik zu erkennen habe: denn dem Menschen pwa_042.005
liege nichts näher als sein Ich, und nichts könne ihn eher und leichter pwa_042.006
zu poetischer Production reizen als seine Empfindungen: mithin sei pwa_042.007
die lyrische Poesie als die Poesie des Ichs und des Gefühls auch pwa_042.008
die älteste.

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Diese Behauptung hat viel verleitenden Schein: dennoch ist sie pwa_042.010
ein lediglich aus der Luft gegriffenes Theorem, und von aller Kenntniss pwa_042.011
der Litteraturgeschichte, von aller Einsicht in das eigentliche Wesen pwa_042.012
der Poesie verlassen. So wie man sich nach historischer Begründung pwa_042.013
umthut, und so wie man nur einigermassen bedenkt, was denn pwa_042.014
Poesie überhaupt solle und wolle, so ergiebt sich vielmehr und bleibt pwa_042.015
nur die Lehre bestehn, dass die epische Poesie die älteste, und dass pwa_042.016
alle Poesie zuerst nur episch gewesen sei.

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Befestigen wir diesen Satz zuerst auf dem geschichtlichen Wege.

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Wie das Aelteste, was wir von deutscher Litteratur kennen, poetische pwa_042.019
Werke sind (denn prosaische Uebersetzung ausländischer Prosa pwa_042.020
darf hier nicht in Anschlag kommen), so ist auch das Aelteste, was pwa_042.021
wir von deutscher Poesie kennen und wissen, epische Poesie. Episch pwa_042.022
sind all die ersten Denkmäler derselben, die sich erhalten haben: so pwa_042.023
aus dem achten Jahrhundert das Lied von Hildebrand und Hadebrand pwa_042.024
(LB. 14, 55); so aus dem neunten das vom Jüngsten Tage (LB. 14, 75): pwa_042.025
denn auch dieses erzählt, zwar nicht Vergangenes, sondern Zukünftiges, pwa_042.026
nicht in historischer, sondern in prophetischer Weise. Indess pwa_042.027
damit wäre noch nicht viel bewiesen: denn die deutsche Nation ist pwa_042.028
älter als aus dem achten und dem neunten Jahrhundert. Aber es pwa_042.029
reichen Zeugnisse von da an aufwärts bis in die frühesten Zeiten zurück, pwa_042.030
bis in denjenigen Zustand, den wir für die europäische Existenz pwa_042.031
der Deutschen als ihren Urzustand betrachten dürfen und müssen: Zeugnisse pwa_042.032
über epische und nur über epische Lieder bei den Langobarden, pwa_042.033
bei den Gothen, bei den Germanen, wie Tacitus sie schildert1.

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Nicht anders bei anderen Völkern. Die Litteratur der Hebräer pwa_042.035
hat einen epischen Beginn; als Walmiki den ersten indischen Vers

1 pwa_042.036
Paulus Diaconus 1, 27. Iornandes 4. 5. Germ. 2. 3. Annal. 2, 88.
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II. VON DER POESIE IM BESONDERN.
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1. DIE EPISCHE POESIE.

pwa_042.003
Es ist eine weit verbreitete Behauptung, dass man als die älteste pwa_042.004
Gattung der Poesie die Lyrik zu erkennen habe: denn dem Menschen pwa_042.005
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die älteste.

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Diese Behauptung hat viel verleitenden Schein: dennoch ist sie pwa_042.010
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alle Poesie zuerst nur episch gewesen sei.

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Befestigen wir diesen Satz zuerst auf dem geschichtlichen Wege.

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Wie das Aelteste, was wir von deutscher Litteratur kennen, poetische pwa_042.019
Werke sind (denn prosaische Uebersetzung ausländischer Prosa pwa_042.020
darf hier nicht in Anschlag kommen), so ist auch das Aelteste, was pwa_042.021
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nicht in historischer, sondern in prophetischer Weise. Indess pwa_042.027
damit wäre noch nicht viel bewiesen: denn die deutsche Nation ist pwa_042.028
älter als aus dem achten und dem neunten Jahrhundert. Aber es pwa_042.029
reichen Zeugnisse von da an aufwärts bis in die frühesten Zeiten zurück, pwa_042.030
bis in denjenigen Zustand, den wir für die europäische Existenz pwa_042.031
der Deutschen als ihren Urzustand betrachten dürfen und müssen: Zeugnisse pwa_042.032
über epische und nur über epische Lieder bei den Langobarden, pwa_042.033
bei den Gothen, bei den Germanen, wie Tacitus sie schildert1.

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Nicht anders bei anderen Völkern. Die Litteratur der Hebräer pwa_042.035
hat einen epischen Beginn; als Walmiki den ersten indischen Vers

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Paulus Diaconus 1, 27. Iornandes 4. 5. Germ. 2. 3. Annal. 2, 88.
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/60>, abgerufen am 28.04.2024.