pwa_441.001 denn wenn z. B. Theodor Körner Gotte: Tode reimt, so ist hier mehr pwa_441.002 Verschiedenheit als Gleichheit. Nun wäre es freilich eine vergebliche pwa_441.003 Mühe, Grenzen stecken zu wollen, und es wäre verkehrt zu sagen, pwa_441.004 der Reim entblättert: vergöttert sei eher erlaubt als erwidert: erschüttert, pwa_441.005 weil dort nur in den Vocalen, hier aber in den Vocalen und den pwa_441.006 Consonanten gefehlt wird. Jede Grenze ist willkürlich und unsicher: pwa_441.007 darum soll nicht weniger Unreinheit stattfinden, sondern gar keine; pwa_441.008 der Reim verlangt volle Reinheit. Und es geht auch ganz wohl. pwa_441.009 Wenn es den deutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts möglich pwa_441.010 war, wo Gedichte von 50,000 Versen ohne einen einzigen unreinen pwa_441.011 Reim vorkommen, warum sollte es Vielen unter uns unmöglich sein, pwa_441.012 nur vier Verse von Misslauten frei zu halten? Dass es aber möglich pwa_441.013 ist, beweisen auch einzelne Dichter, wie Rückert und Platen. Platen pwa_441.014 freilich ist bei allem Streben nach Reinheit des Reimes nicht frei von pwa_441.015 Pedanterei, da er den Gleichlaut in orthographischer Uebereinstimmung pwa_441.016 sucht; er reimt wohl Mut: Blut, Güte: Blüte, nicht aber grün: blühn, pwa_441.017 dawider: Lieder. Rückert aber zeigt, dass, wenn man sich die Reinheit pwa_441.018 zum Gesetze macht, dem Dichter darum nicht weniger Reime zu pwa_441.019 Gebote stehn, im Gegentheil mehr, und dass die Genauigkeit des pwa_441.020 Reimes mehr Anlass bietet, die Sprache auszubeuten und zu bereichern: pwa_441.021 finden sich doch bei wenigen Dichtern so viel neue, überraschende, pwa_441.022 wohllautende Gleichklänge!
pwa_441.023 Eine Ungehörigkeit und Geschmacklosigkeit, welche lateinische pwa_441.024 und deutsche und französische Schriftsteller des Mittelalters mit den pwa_441.025 arabischen theilen, ist die Einmischung des Reimes in die Prosa, die pwa_441.026 Ausschmückung der sonst unrhythmischen Rede mit dem Gleichlaute pwa_441.027 des Reims, indem den einzelnen Sätzen und Satzgliedern reimende pwa_441.028 Schlussworte gegeben werden. Das namhafteste arabische Beispiel pwa_441.029 dieser Art sind die durch Rückert nun auch in Deutschland einheimisch pwa_441.030 gewordenen Makamen des Hariri, eines Dichters aus Basra, der um das pwa_441.031 Jahr 1100 lebte (LB. 2, 1569). Der Reim in lateinischer Prosa findet sich pwa_441.032 in der lex Salica, namentlich in der Vita Sancti Galli aus dem 8. Jahrhundert, pwa_441.033 dann bei mehreren deutschen und böhmischen Geschichtsschreibern pwa_441.034 der fränkischen Kaiser, also des 11. Jahrhunderts; damals pwa_441.035 und nach dem Vorgange der lateinischen Litteratur kam die reimende pwa_441.036 Prosa auch in Deutschland und Frankreich zur Geltung und war hier pwa_441.037 bis zum 13. Jahrhundert ganz allgemein üblich. Das hauptsächlichste pwa_441.038 Beispiel ist eine Schrift des 12. Jahrhunderts, die Verdeutschung von pwa_441.039 des heiligen Nortpert Tractatus de Virtutibus (LB. 14, 189. 15, 367), pwa_441.040 wo der im lateinischen Original fehlende Prosareim noch auf den pwa_441.041 Schluss der Abschnitte beschränkt ist. Vgl. Litt. Gesch. S. 84 fgg.
pwa_441.001 denn wenn z. B. Theodor Körner Gotte: Tode reimt, so ist hier mehr pwa_441.002 Verschiedenheit als Gleichheit. Nun wäre es freilich eine vergebliche pwa_441.003 Mühe, Grenzen stecken zu wollen, und es wäre verkehrt zu sagen, pwa_441.004 der Reim entblättert: vergöttert sei eher erlaubt als erwidert: erschüttert, pwa_441.005 weil dort nur in den Vocalen, hier aber in den Vocalen und den pwa_441.006 Consonanten gefehlt wird. Jede Grenze ist willkürlich und unsicher: pwa_441.007 darum soll nicht weniger Unreinheit stattfinden, sondern gar keine; pwa_441.008 der Reim verlangt volle Reinheit. Und es geht auch ganz wohl. pwa_441.009 Wenn es den deutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts möglich pwa_441.010 war, wo Gedichte von 50,000 Versen ohne einen einzigen unreinen pwa_441.011 Reim vorkommen, warum sollte es Vielen unter uns unmöglich sein, pwa_441.012 nur vier Verse von Misslauten frei zu halten? Dass es aber möglich pwa_441.013 ist, beweisen auch einzelne Dichter, wie Rückert und Platen. Platen pwa_441.014 freilich ist bei allem Streben nach Reinheit des Reimes nicht frei von pwa_441.015 Pedanterei, da er den Gleichlaut in orthographischer Uebereinstimmung pwa_441.016 sucht; er reimt wohl Mut: Blut, Güte: Blüte, nicht aber grün: blühn, pwa_441.017 dawider: Lieder. Rückert aber zeigt, dass, wenn man sich die Reinheit pwa_441.018 zum Gesetze macht, dem Dichter darum nicht weniger Reime zu pwa_441.019 Gebote stehn, im Gegentheil mehr, und dass die Genauigkeit des pwa_441.020 Reimes mehr Anlass bietet, die Sprache auszubeuten und zu bereichern: pwa_441.021 finden sich doch bei wenigen Dichtern so viel neue, überraschende, pwa_441.022 wohllautende Gleichklänge!
pwa_441.023 Eine Ungehörigkeit und Geschmacklosigkeit, welche lateinische pwa_441.024 und deutsche und französische Schriftsteller des Mittelalters mit den pwa_441.025 arabischen theilen, ist die Einmischung des Reimes in die Prosa, die pwa_441.026 Ausschmückung der sonst unrhythmischen Rede mit dem Gleichlaute pwa_441.027 des Reims, indem den einzelnen Sätzen und Satzgliedern reimende pwa_441.028 Schlussworte gegeben werden. Das namhafteste arabische Beispiel pwa_441.029 dieser Art sind die durch Rückert nun auch in Deutschland einheimisch pwa_441.030 gewordenen Makamen des Hariri, eines Dichters aus Basra, der um das pwa_441.031 Jahr 1100 lebte (LB. 2, 1569). Der Reim in lateinischer Prosa findet sich pwa_441.032 in der lex Salica, namentlich in der Vita Sancti Galli aus dem 8. Jahrhundert, pwa_441.033 dann bei mehreren deutschen und böhmischen Geschichtsschreibern pwa_441.034 der fränkischen Kaiser, also des 11. Jahrhunderts; damals pwa_441.035 und nach dem Vorgange der lateinischen Litteratur kam die reimende pwa_441.036 Prosa auch in Deutschland und Frankreich zur Geltung und war hier pwa_441.037 bis zum 13. Jahrhundert ganz allgemein üblich. Das hauptsächlichste pwa_441.038 Beispiel ist eine Schrift des 12. Jahrhunderts, die Verdeutschung von pwa_441.039 des heiligen Nortpert Tractatus de Virtutibus (LB. 14, 189. 15, 367), pwa_441.040 wo der im lateinischen Original fehlende Prosareim noch auf den pwa_441.041 Schluss der Abschnitte beschränkt ist. Vgl. Litt. Gesch. S. 84 fgg.
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/459>, abgerufen am 23.11.2024.
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