Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_402.001 pwa_402.010 pwa_402.037 pwa_402.001 pwa_402.010 pwa_402.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0420" n="402"/><lb n="pwa_402.001"/> zene sîne zuuelifelnîge). Ebenda auch ein lateinisches Beispiel aus <lb n="pwa_402.002"/> Virgils Aeneide 3, 421 fg. Eine gewöhnliche Hyperbel ist es auch, <lb n="pwa_402.003"/> wenn wir statt <hi rendition="#i">ich</hi> den Pluralis maiestatis <hi rendition="#i">wir</hi> gebrauchen, oder wenn <lb n="pwa_402.004"/> wir eine einzelne Person mit <hi rendition="#i">Ihr, Sie</hi> anreden. Es liegt in der Natur <lb n="pwa_402.005"/> der Sache, dass die Hyperbel für beiderlei kann gebraucht werden, <lb n="pwa_402.006"/> für das Erhabene und für das Lächerliche. Aber eben deswegen wird <lb n="pwa_402.007"/> sie oft lächerlich, wo sie erhaben sein soll, wie diess bei Ramler oft <lb n="pwa_402.008"/> genug der Fall ist. Hier kann nur ein glücklicher Tact den rechten <lb n="pwa_402.009"/> Ort und das rechte Mass finden lehren.</p> <p><lb n="pwa_402.010"/> Das Gegentheil zur Hyperbel bildet die <hi rendition="#b">Litotes</hi> (<foreign xml:lang="grc">λιτότης</foreign>), d. h. <lb n="pwa_402.011"/> Kleinheit, Geringfügigkeit. Man versteht darunter die Uebertreibung <lb n="pwa_402.012"/> nach unten hin, die Herabsetzung unter die Wahrheit. Man unterscheidet <lb n="pwa_402.013"/> wohl von der Litotes noch die <foreign xml:lang="grc">ταπείνωσις</foreign>, Erniedrigung, oder <lb n="pwa_402.014"/> die <foreign xml:lang="grc">μείωσις</foreign>, Verkleinerung: dann nimmt man die Litotes in transitivem <lb n="pwa_402.015"/> Sinne und versteht darunter den Ausdruck der Verachtung gegen einen <lb n="pwa_402.016"/> Andern, während die <foreign xml:lang="grc">ταπείνωσις</foreign> und <foreign xml:lang="grc">μείωσις</foreign> reflexiv gegen den Sprechenden <lb n="pwa_402.017"/> selbst gerichtet ist und auf Bescheidenheit und Selbstgeringschätzung <lb n="pwa_402.018"/> beruht. Eine solche Herabsetzung aus Bescheidenheit ist es, <lb n="pwa_402.019"/> wenn David sich vor Saul einen todten Hund und einen Floh nennt: <lb n="pwa_402.020"/> 1. Sam. 24, 15: „Wem zeuchst du nach, König von Israel? Wem jagst <lb n="pwa_402.021"/> du nach? Einem todten Hunde, einem einigen Floh?“ und ebenso <lb n="pwa_402.022"/> 1. Sam. 26, 20: „Der König Israels ist ausgezogen, zu suchen einen <lb n="pwa_402.023"/> Floh, wie man ein Rebhuhn jagt auf den Bergen.“ Eine <foreign xml:lang="grc">ταπείνωσις</foreign> <lb n="pwa_402.024"/> ist es ferner, wenn in Schillers Cabale und Liebe (1. Act. 3. Sc.) Louise <lb n="pwa_402.025"/> von sich selbst sagt: „Diess Bischen Leben — dürft' ich es hinhauchen <lb n="pwa_402.026"/> in ein leises, schmeichelndes Lüftchen, sein Gesicht abzukühlen! — <lb n="pwa_402.027"/> Diess Blümchen Jugend — wäre es ein Veilchen, und er träte darauf, <lb n="pwa_402.028"/> und es dürfte bescheiden unter ihm sterben!“ Beide, Hyperbel und <lb n="pwa_402.029"/> Litotes wirken am meisten, geben die sinnlichste Anschaulichkeit, wenn <lb n="pwa_402.030"/> das Auf- und Absteigen stufenweise geschieht, wenn damit noch die Gradation <lb n="pwa_402.031"/> verbunden ist, wovon späterhin noch die Rede sein wird (S. 410). <lb n="pwa_402.032"/> Hyperbel und Litotes schieben die Vorstellung von ihrem rechten <lb n="pwa_402.033"/> Puncte fort und darüber hinauf oder hinunter, ohne bestimmte Grenze, <lb n="pwa_402.034"/> bis wie weit und wohin. Bei zwei anderen Tropen ist diese Grenzlinie <lb n="pwa_402.035"/> des Verschiebens von dem rechten Punct vorhanden, die Grenzlinie <lb n="pwa_402.036"/> des Gegentheils: ich meine die <hi rendition="#b">Ironie</hi> und den <hi rendition="#b">Euphemismus.</hi></p> <p><lb n="pwa_402.037"/> Bekanntlich bezeichnet <hi rendition="#b">Ironie</hi> (<foreign xml:lang="grc">εἰρωνεία</foreign>) eigentlich jede mehr oder <lb n="pwa_402.038"/> minder spöttische Verstellung, wodurch Unwissenheit über einen Gegenstand <lb n="pwa_402.039"/> vorgegeben wird, den man gleichwohl recht gut kennt. In diesem <lb n="pwa_402.040"/> Sinne ist die Ironie des Socrates sprichwörtlich geworden: denn sein <lb n="pwa_402.041"/> dialectisches Verfahren beruhte vorzüglich auf dieser fingierten Unwissenheit. </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [402/0420]
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zene sîne zuuelifelnîge). Ebenda auch ein lateinisches Beispiel aus pwa_402.002
Virgils Aeneide 3, 421 fg. Eine gewöhnliche Hyperbel ist es auch, pwa_402.003
wenn wir statt ich den Pluralis maiestatis wir gebrauchen, oder wenn pwa_402.004
wir eine einzelne Person mit Ihr, Sie anreden. Es liegt in der Natur pwa_402.005
der Sache, dass die Hyperbel für beiderlei kann gebraucht werden, pwa_402.006
für das Erhabene und für das Lächerliche. Aber eben deswegen wird pwa_402.007
sie oft lächerlich, wo sie erhaben sein soll, wie diess bei Ramler oft pwa_402.008
genug der Fall ist. Hier kann nur ein glücklicher Tact den rechten pwa_402.009
Ort und das rechte Mass finden lehren.
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Das Gegentheil zur Hyperbel bildet die Litotes (λιτότης), d. h. pwa_402.011
Kleinheit, Geringfügigkeit. Man versteht darunter die Uebertreibung pwa_402.012
nach unten hin, die Herabsetzung unter die Wahrheit. Man unterscheidet pwa_402.013
wohl von der Litotes noch die ταπείνωσις, Erniedrigung, oder pwa_402.014
die μείωσις, Verkleinerung: dann nimmt man die Litotes in transitivem pwa_402.015
Sinne und versteht darunter den Ausdruck der Verachtung gegen einen pwa_402.016
Andern, während die ταπείνωσις und μείωσις reflexiv gegen den Sprechenden pwa_402.017
selbst gerichtet ist und auf Bescheidenheit und Selbstgeringschätzung pwa_402.018
beruht. Eine solche Herabsetzung aus Bescheidenheit ist es, pwa_402.019
wenn David sich vor Saul einen todten Hund und einen Floh nennt: pwa_402.020
1. Sam. 24, 15: „Wem zeuchst du nach, König von Israel? Wem jagst pwa_402.021
du nach? Einem todten Hunde, einem einigen Floh?“ und ebenso pwa_402.022
1. Sam. 26, 20: „Der König Israels ist ausgezogen, zu suchen einen pwa_402.023
Floh, wie man ein Rebhuhn jagt auf den Bergen.“ Eine ταπείνωσις pwa_402.024
ist es ferner, wenn in Schillers Cabale und Liebe (1. Act. 3. Sc.) Louise pwa_402.025
von sich selbst sagt: „Diess Bischen Leben — dürft' ich es hinhauchen pwa_402.026
in ein leises, schmeichelndes Lüftchen, sein Gesicht abzukühlen! — pwa_402.027
Diess Blümchen Jugend — wäre es ein Veilchen, und er träte darauf, pwa_402.028
und es dürfte bescheiden unter ihm sterben!“ Beide, Hyperbel und pwa_402.029
Litotes wirken am meisten, geben die sinnlichste Anschaulichkeit, wenn pwa_402.030
das Auf- und Absteigen stufenweise geschieht, wenn damit noch die Gradation pwa_402.031
verbunden ist, wovon späterhin noch die Rede sein wird (S. 410). pwa_402.032
Hyperbel und Litotes schieben die Vorstellung von ihrem rechten pwa_402.033
Puncte fort und darüber hinauf oder hinunter, ohne bestimmte Grenze, pwa_402.034
bis wie weit und wohin. Bei zwei anderen Tropen ist diese Grenzlinie pwa_402.035
des Verschiebens von dem rechten Punct vorhanden, die Grenzlinie pwa_402.036
des Gegentheils: ich meine die Ironie und den Euphemismus.
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Bekanntlich bezeichnet Ironie (εἰρωνεία) eigentlich jede mehr oder pwa_402.038
minder spöttische Verstellung, wodurch Unwissenheit über einen Gegenstand pwa_402.039
vorgegeben wird, den man gleichwohl recht gut kennt. In diesem pwa_402.040
Sinne ist die Ironie des Socrates sprichwörtlich geworden: denn sein pwa_402.041
dialectisches Verfahren beruhte vorzüglich auf dieser fingierten Unwissenheit.
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