Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_393.001 pwa_393.027 pwa_393.001 pwa_393.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0411" n="393"/><lb n="pwa_393.001"/> Lachm.) Dietrich von Bern, nachdem er alle seine Mannen verloren <lb n="pwa_393.002"/> hat, im bittersten Schmerze ausruft: „Und sint erstorben alle mîne <lb n="pwa_393.003"/> man, sô hât mîn got vergeʒʒen, ich <hi rendition="#i">armer Dietrîch!</hi>“ Hier wird <lb n="pwa_393.004"/> Dietrich in seiner eigentlichen Bedeutung <hi rendition="#i">Dietreich, Volkreich</hi> aufgefasst, <lb n="pwa_393.005"/> und das ist bei dem antithetischen Beiworte <hi rendition="#i">arm</hi> ein Wortspiel. <lb n="pwa_393.006"/> Oder wenn in einem anderen Gedicht aus der Dietrichssage, Dietrichs <lb n="pwa_393.007"/> Flucht betitelt, Dietrich, nachdem er eine Schlacht verloren, durch die <lb n="pwa_393.008"/> er sein Reich in Bern wieder zu erlangen hoffte, ausruft: „Von Berne <lb n="pwa_393.009"/> (d. h. der von Bern getrennte) mac wol heiʒen ich, wan ich dâ niht ze <lb n="pwa_393.010"/> schaffen hân“ (V. 4762). Oder wenn es in der Gudrun Str. 623 heisst: <lb n="pwa_393.011"/> „Daʒ muote Hartmuoten harte sêre.“ Wie aber gesagt, das Wesen des <lb n="pwa_393.012"/> ernsthaften Epos und der Tragödie duldet dergleichen nur selten und <lb n="pwa_393.013"/> unter besonderen Umständen, und deshalb darf man auch zweifeln, ob <lb n="pwa_393.014"/> Paul Gerhardt (S. 97<hi rendition="#sup">b</hi>. 137<hi rendition="#sup">a</hi>) und Benjamin Schmolck recht daran gethan <lb n="pwa_393.015"/> haben, dass sie sogar in das geistliche Lied Wortspiele gebracht haben. <lb n="pwa_393.016"/> Die komische Poesie und Prosa dagegen begünstigt es, und von je lebhafterem <lb n="pwa_393.017"/> Witz Autoren dieser Art waren, desto mehr haben sie auch <lb n="pwa_393.018"/> eben diese Seite und diese Form des Witzes herausgekehrt. Als Beispiel <lb n="pwa_393.019"/> diene ein Abschnitt aus dem eben erwähnten geistlich satirischen <lb n="pwa_393.020"/> Romane Judas der Erzschelm von Abraham a Sancta Clara, in welchem <lb n="pwa_393.021"/> Abschnitte unter einer wahren Flut der mannigfaltigsten Wortspiele das <lb n="pwa_393.022"/> Leben des verlorenen Sohnes erzählt wird (LB. 3, 1, 909). Bekanntlich <lb n="pwa_393.023"/> sind die Wortspiele in Schillers Capuzinerpredigt zum grössten Theil aus <lb n="pwa_393.024"/> Abraham a S. Clara entlehnt, die anderen ihm wenigstens nachgebildet, <lb n="pwa_393.025"/> und grade in diesem Abschnitte finden wir die Originale zu mehreren <lb n="pwa_393.026"/> Schillerischen.</p> <p><lb n="pwa_393.027"/> Drittens die <hi rendition="#b">Synecdoche</hi> (<foreign xml:lang="grc">συνεκδοχή</foreign>), eigentlich das Mitverstehen. <lb n="pwa_393.028"/> Die Synecdoche ist im Grunde nur eine Abart der Metonymie: auch hier <lb n="pwa_393.029"/> findet eine Vertauschung nah zusammenhangender Begriffe statt, aber <lb n="pwa_393.030"/> unter einem bestimmten Verhältnisse: dem des Theiles zum Ganzen. <lb n="pwa_393.031"/> Sie beruht also auf einem Umfangsverhältniss, oder, wenn man will, <lb n="pwa_393.032"/> Theilverhältniss, und es ist eine Synecdoche, so wie man den Theil <lb n="pwa_393.033"/> für das Ganze, partem pro toto, oder umgekehrt das Ganze für den <lb n="pwa_393.034"/> Theil setzt. Dieser Theil muss aber unter all den Einzelheiten, die <lb n="pwa_393.035"/> sich an dem Ganzen unterscheiden lassen, die wichtigste und hauptsächlichste <lb n="pwa_393.036"/> sein, muss Wesen und Zweck des Ganzen recht eigentlich <lb n="pwa_393.037"/> characterisieren. Wo er nicht so beschaffen ist, da fehlt der Synecdoche <lb n="pwa_393.038"/> die rechte Anschaulichkeit. Es steht z. B. ganz einfach der <lb n="pwa_393.039"/> characteristische Theil für das Ganze, wenn man statt des Schwertes <lb n="pwa_393.040"/> <hi rendition="#i">ort,</hi> die Spitze des Schwertes, oder <hi rendition="#i">ecke,</hi> die Schärfe des Schwertes <lb n="pwa_393.041"/> setzt oder <hi rendition="#i">Schneide</hi> oder <hi rendition="#i">Heft;</hi> statt des Schildes <hi rendition="#i">umbo,</hi> Buckel, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [393/0411]
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Lachm.) Dietrich von Bern, nachdem er alle seine Mannen verloren pwa_393.002
hat, im bittersten Schmerze ausruft: „Und sint erstorben alle mîne pwa_393.003
man, sô hât mîn got vergeʒʒen, ich armer Dietrîch!“ Hier wird pwa_393.004
Dietrich in seiner eigentlichen Bedeutung Dietreich, Volkreich aufgefasst, pwa_393.005
und das ist bei dem antithetischen Beiworte arm ein Wortspiel. pwa_393.006
Oder wenn in einem anderen Gedicht aus der Dietrichssage, Dietrichs pwa_393.007
Flucht betitelt, Dietrich, nachdem er eine Schlacht verloren, durch die pwa_393.008
er sein Reich in Bern wieder zu erlangen hoffte, ausruft: „Von Berne pwa_393.009
(d. h. der von Bern getrennte) mac wol heiʒen ich, wan ich dâ niht ze pwa_393.010
schaffen hân“ (V. 4762). Oder wenn es in der Gudrun Str. 623 heisst: pwa_393.011
„Daʒ muote Hartmuoten harte sêre.“ Wie aber gesagt, das Wesen des pwa_393.012
ernsthaften Epos und der Tragödie duldet dergleichen nur selten und pwa_393.013
unter besonderen Umständen, und deshalb darf man auch zweifeln, ob pwa_393.014
Paul Gerhardt (S. 97b. 137a) und Benjamin Schmolck recht daran gethan pwa_393.015
haben, dass sie sogar in das geistliche Lied Wortspiele gebracht haben. pwa_393.016
Die komische Poesie und Prosa dagegen begünstigt es, und von je lebhafterem pwa_393.017
Witz Autoren dieser Art waren, desto mehr haben sie auch pwa_393.018
eben diese Seite und diese Form des Witzes herausgekehrt. Als Beispiel pwa_393.019
diene ein Abschnitt aus dem eben erwähnten geistlich satirischen pwa_393.020
Romane Judas der Erzschelm von Abraham a Sancta Clara, in welchem pwa_393.021
Abschnitte unter einer wahren Flut der mannigfaltigsten Wortspiele das pwa_393.022
Leben des verlorenen Sohnes erzählt wird (LB. 3, 1, 909). Bekanntlich pwa_393.023
sind die Wortspiele in Schillers Capuzinerpredigt zum grössten Theil aus pwa_393.024
Abraham a S. Clara entlehnt, die anderen ihm wenigstens nachgebildet, pwa_393.025
und grade in diesem Abschnitte finden wir die Originale zu mehreren pwa_393.026
Schillerischen.
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Drittens die Synecdoche (συνεκδοχή), eigentlich das Mitverstehen. pwa_393.028
Die Synecdoche ist im Grunde nur eine Abart der Metonymie: auch hier pwa_393.029
findet eine Vertauschung nah zusammenhangender Begriffe statt, aber pwa_393.030
unter einem bestimmten Verhältnisse: dem des Theiles zum Ganzen. pwa_393.031
Sie beruht also auf einem Umfangsverhältniss, oder, wenn man will, pwa_393.032
Theilverhältniss, und es ist eine Synecdoche, so wie man den Theil pwa_393.033
für das Ganze, partem pro toto, oder umgekehrt das Ganze für den pwa_393.034
Theil setzt. Dieser Theil muss aber unter all den Einzelheiten, die pwa_393.035
sich an dem Ganzen unterscheiden lassen, die wichtigste und hauptsächlichste pwa_393.036
sein, muss Wesen und Zweck des Ganzen recht eigentlich pwa_393.037
characterisieren. Wo er nicht so beschaffen ist, da fehlt der Synecdoche pwa_393.038
die rechte Anschaulichkeit. Es steht z. B. ganz einfach der pwa_393.039
characteristische Theil für das Ganze, wenn man statt des Schwertes pwa_393.040
ort, die Spitze des Schwertes, oder ecke, die Schärfe des Schwertes pwa_393.041
setzt oder Schneide oder Heft; statt des Schildes umbo, Buckel,
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