Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_389.001 pwa_389.022 pwa_389.001 pwa_389.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0407" n="389"/><lb n="pwa_389.001"/> sich ähnlich sind. Bei dieser verständigen Betrachtung zeigt sich aber <lb n="pwa_389.002"/> jedesmal, dass neben dem Aehnlichen auch wieder manches Verschiedene <lb n="pwa_389.003"/> sei: daher der Satz „Omne simile claudicat, Jede Vergleichung <lb n="pwa_389.004"/> hinkt.“ Das ist nicht zu vermeiden, der Dichter kann nur dafür sorgen, <lb n="pwa_389.005"/> dass es nicht gar zu augenfällig hinke, oder dass gar das tertium <lb n="pwa_389.006"/> comparationis gänzlich fehle. Besonderen Reiz aber haben solche <lb n="pwa_389.007"/> Vergleichungen und Gleichnisse, die einen auffallenden Contrast des <lb n="pwa_389.008"/> Grossen und des Kleinen, des Gewaltigen und des Geringfügigen <lb n="pwa_389.009"/> enthalten; hier wird entweder der messende und nachrechnende Verstand <lb n="pwa_389.010"/> überrascht und überwältigt, und es ergiebt sich das Erhabene; <lb n="pwa_389.011"/> oder er geräth in Widerspruch und verharrt darin, und es ergiebt <lb n="pwa_389.012"/> sich das Lächerliche: das Erhabene, wenn das zur Vergleichung herbeigezogene <lb n="pwa_389.013"/> Bild an sich geringfügig, das, womit es verglichen wird, <lb n="pwa_389.014"/> grossartig ist; das Lächerliche bei umgekehrtem Verhältniss, wenn <lb n="pwa_389.015"/> die Grundanschauung geringfügig, das Bild aber grossartig ist. Erhaben <lb n="pwa_389.016"/> ist der Contrast z. B. in dem Homerischen Gleichnisse Il. 12, 433, <lb n="pwa_389.017"/> wo die unentschieden schwebende Schlacht mit der gleichstehenden <lb n="pwa_389.018"/> Wage einer Wollenspinnerin zusammengestellt wird; lächerlich dagegen <lb n="pwa_389.019"/> in Zachariäs Renommisten, wenn das Bier, das bei einem Studentengelage <lb n="pwa_389.020"/> über den Tisch fliesst, verglichen wird mit dem anschwellenden <lb n="pwa_389.021"/> und übertretenden Nil (LB. 2, 649).</p> <p><lb n="pwa_389.022"/> Fünftens die <hi rendition="#b">Anspielung</hi> oder <hi rendition="#b">Allusio.</hi> Sie gehört mit zu der <lb n="pwa_389.023"/> Vergleichung, doch hat sie die eigenthümliche Beschaffenheit, dass <lb n="pwa_389.024"/> nur das zur Vergleichung Gezogene ausgesprochen wird, bloss diess <lb n="pwa_389.025"/> eine, nicht beide Glieder, und dass dieses eine der geschichtlichen <lb n="pwa_389.026"/> Wirklichkeit angehört: es wird also in einer verkürzten Vergleichung <lb n="pwa_389.027"/> hingewiesen auf eine historische Person oder Räumlichkeit oder Begebenheit <lb n="pwa_389.028"/> oder Sitte und dergleichen. Z. B. „Jetzt bin ich über den <lb n="pwa_389.029"/> Rubico gegangen“, d. h. jetzt habe ich einen entscheidenden Schritt <lb n="pwa_389.030"/> gethan, wie Cäsar, da er über den Rubico gieng. Anspielungen sind <lb n="pwa_389.031"/> es ferner, wenn eine Person ein Spartaner, ein Sybarit, ein Epicuräer, <lb n="pwa_389.032"/> ein Cyniker, ein Attila, ein Vandale, ein Salomon, ein Mentor, <lb n="pwa_389.033"/> wenn eine böse Frau eine Xanthippe, wenn ein schönes Thal ein <lb n="pwa_389.034"/> Tempe, ein reizender Ort ein Elysium, wenn eine kurze Antwort <lb n="pwa_389.035"/> laconisch, ein schwelgerisches Mahl lucullisch genannt wird, oder endlich, <lb n="pwa_389.036"/> wenn man von Argusaugen, Hiobsgeduld, Tagen von Aranjuez, <lb n="pwa_389.037"/> Herculischen Arbeiten, Neronischer Grausamkeit u. s. f. spricht. <lb n="pwa_389.038"/> Bedenklich wird die Anspielung, wenn das Verständniss Gelehrsamkeit <lb n="pwa_389.039"/> erfordert. Dieser Weg wurde namentlich damals viel betreten, <lb n="pwa_389.040"/> als unsere Poesie noch bis über die Ohren in der antiken Mythologie <lb n="pwa_389.041"/> steckte.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [389/0407]
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sich ähnlich sind. Bei dieser verständigen Betrachtung zeigt sich aber pwa_389.002
jedesmal, dass neben dem Aehnlichen auch wieder manches Verschiedene pwa_389.003
sei: daher der Satz „Omne simile claudicat, Jede Vergleichung pwa_389.004
hinkt.“ Das ist nicht zu vermeiden, der Dichter kann nur dafür sorgen, pwa_389.005
dass es nicht gar zu augenfällig hinke, oder dass gar das tertium pwa_389.006
comparationis gänzlich fehle. Besonderen Reiz aber haben solche pwa_389.007
Vergleichungen und Gleichnisse, die einen auffallenden Contrast des pwa_389.008
Grossen und des Kleinen, des Gewaltigen und des Geringfügigen pwa_389.009
enthalten; hier wird entweder der messende und nachrechnende Verstand pwa_389.010
überrascht und überwältigt, und es ergiebt sich das Erhabene; pwa_389.011
oder er geräth in Widerspruch und verharrt darin, und es ergiebt pwa_389.012
sich das Lächerliche: das Erhabene, wenn das zur Vergleichung herbeigezogene pwa_389.013
Bild an sich geringfügig, das, womit es verglichen wird, pwa_389.014
grossartig ist; das Lächerliche bei umgekehrtem Verhältniss, wenn pwa_389.015
die Grundanschauung geringfügig, das Bild aber grossartig ist. Erhaben pwa_389.016
ist der Contrast z. B. in dem Homerischen Gleichnisse Il. 12, 433, pwa_389.017
wo die unentschieden schwebende Schlacht mit der gleichstehenden pwa_389.018
Wage einer Wollenspinnerin zusammengestellt wird; lächerlich dagegen pwa_389.019
in Zachariäs Renommisten, wenn das Bier, das bei einem Studentengelage pwa_389.020
über den Tisch fliesst, verglichen wird mit dem anschwellenden pwa_389.021
und übertretenden Nil (LB. 2, 649).
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Fünftens die Anspielung oder Allusio. Sie gehört mit zu der pwa_389.023
Vergleichung, doch hat sie die eigenthümliche Beschaffenheit, dass pwa_389.024
nur das zur Vergleichung Gezogene ausgesprochen wird, bloss diess pwa_389.025
eine, nicht beide Glieder, und dass dieses eine der geschichtlichen pwa_389.026
Wirklichkeit angehört: es wird also in einer verkürzten Vergleichung pwa_389.027
hingewiesen auf eine historische Person oder Räumlichkeit oder Begebenheit pwa_389.028
oder Sitte und dergleichen. Z. B. „Jetzt bin ich über den pwa_389.029
Rubico gegangen“, d. h. jetzt habe ich einen entscheidenden Schritt pwa_389.030
gethan, wie Cäsar, da er über den Rubico gieng. Anspielungen sind pwa_389.031
es ferner, wenn eine Person ein Spartaner, ein Sybarit, ein Epicuräer, pwa_389.032
ein Cyniker, ein Attila, ein Vandale, ein Salomon, ein Mentor, pwa_389.033
wenn eine böse Frau eine Xanthippe, wenn ein schönes Thal ein pwa_389.034
Tempe, ein reizender Ort ein Elysium, wenn eine kurze Antwort pwa_389.035
laconisch, ein schwelgerisches Mahl lucullisch genannt wird, oder endlich, pwa_389.036
wenn man von Argusaugen, Hiobsgeduld, Tagen von Aranjuez, pwa_389.037
Herculischen Arbeiten, Neronischer Grausamkeit u. s. f. spricht. pwa_389.038
Bedenklich wird die Anspielung, wenn das Verständniss Gelehrsamkeit pwa_389.039
erfordert. Dieser Weg wurde namentlich damals viel betreten, pwa_389.040
als unsere Poesie noch bis über die Ohren in der antiken Mythologie pwa_389.041
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