Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_388.001 pwa_388.037 pwa_388.001 pwa_388.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0406" n="388"/><lb n="pwa_388.001"/> zu gehn pflegt, wo man etwas bloss nachahmt, Virgil und die neueren <lb n="pwa_388.002"/> Dichter übertreiben es darin, und während die Homeriden gewiss <lb n="pwa_388.003"/> sparsam mit ihren Gleichnissen sind (Häufungen wie II. 2, 455 fgg. <lb n="pwa_388.004"/> sind selten und erklären sich aus dem Ursprunge des Gedichtes), wird <lb n="pwa_388.005"/> man bei neueren Epikern recht eigentlich damit überschüttet, und man <lb n="pwa_388.006"/> kann keine Seite lesen, ohne auf ein <hi rendition="#i">Wie</hi> zu stossen. Ja in einem <lb n="pwa_388.007"/> neueren Epos der schweizerischen Litteratur, Die Enkel Winkelrieds <lb n="pwa_388.008"/> von Tobler, einem sonst nicht unverdienstlichen Werke, kommen zuweilen <lb n="pwa_388.009"/> unmittelbar hinter einander drei, vier vor (S. 8. 14 fgg.), eine <lb n="pwa_388.010"/> Uebertreibung, die häufig zur Katachrese führt. Ausserdem fehlt Tobler <lb n="pwa_388.011"/> und fehlen andere neuere Epiker noch darin, dass sie ihre Gleichnisse <lb n="pwa_388.012"/> zu weit herholen. Die Naturerscheinungen z. B., die Homer <lb n="pwa_388.013"/> etwa gelegentlich als Gleichniss braucht, sind Erscheinungen der den <lb n="pwa_388.014"/> Griechen täglich und überall umgebenden Natur, Ströme, die bergab <lb n="pwa_388.015"/> stürzen, Kraniche, die durch die Luft ziehen, Steine, die über das <lb n="pwa_388.016"/> Feld hin verstreut sind: ebenso gut sind nun noch die Toblerischen <lb n="pwa_388.017"/> Gleichnisse von der Lauine, der Wettertanne u. dgl. Sowie er aber <lb n="pwa_388.018"/> darüber hinaus geht, sowie er z. B. von wilden Thieren der americanischen <lb n="pwa_388.019"/> Urwälder spricht, wird es auch fehlerhaft: es sind Gleichnisse, <lb n="pwa_388.020"/> die von der Darstellung weitab liegen und die Phantasie zerstreuen, <lb n="pwa_388.021"/> die nur die Gelehrsamkeit producieren, nur die Gelehrsamkeit reproducieren <lb n="pwa_388.022"/> kann, denen also viel abgeht zu einer allgemein gültigen Anschaulichkeit. <lb n="pwa_388.023"/> Besondere Beachtung verdient die eigenthümliche Form, <lb n="pwa_388.024"/> welche die serbische Poesie den Gleichnissen zu geben liebt: zuerst <lb n="pwa_388.025"/> wird das verglichene Naturbild, vielleicht in Form einer Frage, hingestellt, <lb n="pwa_388.026"/> dann folgt die Negation des Bildes und die Entgegenstellung <lb n="pwa_388.027"/> des wirklichen Ereignisses, das erzählt werden soll. Z. B. Talvj <lb n="pwa_388.028"/> 2, 159: „Wuchsen einst zwei Kiefern bei einander, Mitten eine Tanne <lb n="pwa_388.029"/> schlanken Wipfels. Aber nicht zwei grüne Kiefern warens, War nicht <lb n="pwa_388.030"/> eine Tanne schlanken Wipfels, Waren Brüder, Söhne eines Leibes, <lb n="pwa_388.031"/> Zwischen ihnen Jelitza, die Schwester.“ Oder Talvj 1, 201: „Rollt der <lb n="pwa_388.032"/> Donner? oder bebt die Erde? Nicht der Donner ist es, noch die <lb n="pwa_388.033"/> Erde, Die Kanonen krachen in der Feste.“ Vgl. Talvj 1, 164; 2, 165. <lb n="pwa_388.034"/> Durch diese Formgebung erhält das Naturbild eine grössere Selbständigkeit <lb n="pwa_388.035"/> und Anschaulichkeit, zugleich wird es durch die Frage und <lb n="pwa_388.036"/> dann die Negation eben als Bild, als unwirklich bezeichnet.</p> <p><lb n="pwa_388.037"/> Uebrigens beschäftigt jede Vergleichung und jedes Gleichniss nicht <lb n="pwa_388.038"/> bloss die Einbildungskraft, sondern zugleich immer den Verstand: <lb n="pwa_388.039"/> denn eigentlich er ist es ja, seine Thätigkeit im Witz, die uns das <lb n="pwa_388.040"/> sogenannte <hi rendition="#i">tertium comparationis</hi> entdecken lässt, d. h. den Punct, <lb n="pwa_388.041"/> worin die zwei Glieder einer Vergleichung, worin Bild und Gegenbild </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [388/0406]
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zu gehn pflegt, wo man etwas bloss nachahmt, Virgil und die neueren pwa_388.002
Dichter übertreiben es darin, und während die Homeriden gewiss pwa_388.003
sparsam mit ihren Gleichnissen sind (Häufungen wie II. 2, 455 fgg. pwa_388.004
sind selten und erklären sich aus dem Ursprunge des Gedichtes), wird pwa_388.005
man bei neueren Epikern recht eigentlich damit überschüttet, und man pwa_388.006
kann keine Seite lesen, ohne auf ein Wie zu stossen. Ja in einem pwa_388.007
neueren Epos der schweizerischen Litteratur, Die Enkel Winkelrieds pwa_388.008
von Tobler, einem sonst nicht unverdienstlichen Werke, kommen zuweilen pwa_388.009
unmittelbar hinter einander drei, vier vor (S. 8. 14 fgg.), eine pwa_388.010
Uebertreibung, die häufig zur Katachrese führt. Ausserdem fehlt Tobler pwa_388.011
und fehlen andere neuere Epiker noch darin, dass sie ihre Gleichnisse pwa_388.012
zu weit herholen. Die Naturerscheinungen z. B., die Homer pwa_388.013
etwa gelegentlich als Gleichniss braucht, sind Erscheinungen der den pwa_388.014
Griechen täglich und überall umgebenden Natur, Ströme, die bergab pwa_388.015
stürzen, Kraniche, die durch die Luft ziehen, Steine, die über das pwa_388.016
Feld hin verstreut sind: ebenso gut sind nun noch die Toblerischen pwa_388.017
Gleichnisse von der Lauine, der Wettertanne u. dgl. Sowie er aber pwa_388.018
darüber hinaus geht, sowie er z. B. von wilden Thieren der americanischen pwa_388.019
Urwälder spricht, wird es auch fehlerhaft: es sind Gleichnisse, pwa_388.020
die von der Darstellung weitab liegen und die Phantasie zerstreuen, pwa_388.021
die nur die Gelehrsamkeit producieren, nur die Gelehrsamkeit reproducieren pwa_388.022
kann, denen also viel abgeht zu einer allgemein gültigen Anschaulichkeit. pwa_388.023
Besondere Beachtung verdient die eigenthümliche Form, pwa_388.024
welche die serbische Poesie den Gleichnissen zu geben liebt: zuerst pwa_388.025
wird das verglichene Naturbild, vielleicht in Form einer Frage, hingestellt, pwa_388.026
dann folgt die Negation des Bildes und die Entgegenstellung pwa_388.027
des wirklichen Ereignisses, das erzählt werden soll. Z. B. Talvj pwa_388.028
2, 159: „Wuchsen einst zwei Kiefern bei einander, Mitten eine Tanne pwa_388.029
schlanken Wipfels. Aber nicht zwei grüne Kiefern warens, War nicht pwa_388.030
eine Tanne schlanken Wipfels, Waren Brüder, Söhne eines Leibes, pwa_388.031
Zwischen ihnen Jelitza, die Schwester.“ Oder Talvj 1, 201: „Rollt der pwa_388.032
Donner? oder bebt die Erde? Nicht der Donner ist es, noch die pwa_388.033
Erde, Die Kanonen krachen in der Feste.“ Vgl. Talvj 1, 164; 2, 165. pwa_388.034
Durch diese Formgebung erhält das Naturbild eine grössere Selbständigkeit pwa_388.035
und Anschaulichkeit, zugleich wird es durch die Frage und pwa_388.036
dann die Negation eben als Bild, als unwirklich bezeichnet.
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Uebrigens beschäftigt jede Vergleichung und jedes Gleichniss nicht pwa_388.038
bloss die Einbildungskraft, sondern zugleich immer den Verstand: pwa_388.039
denn eigentlich er ist es ja, seine Thätigkeit im Witz, die uns das pwa_388.040
sogenannte tertium comparationis entdecken lässt, d. h. den Punct, pwa_388.041
worin die zwei Glieder einer Vergleichung, worin Bild und Gegenbild
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