Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_365.001 pwa_365.007 pwa_365.019 pwa_365.037 pwa_365.001 pwa_365.007 pwa_365.019 pwa_365.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0383" n="365"/><lb n="pwa_365.001"/> verhält es sich mit der genitivischen Bekleidung eines Substantivums: <lb n="pwa_365.002"/> während jetzt der Genitiv seinen Platz meist hinter dem bekleideten, <lb n="pwa_365.003"/> regierenden Substantiv hat, stellte ihn die ältere Sprache <lb n="pwa_365.004"/> vorzugsweise vor dasselbe, wie diess noch in vielen Zusammensetzungen <lb n="pwa_365.005"/> zu sehen ist, z. B. Freundesdienst, Kindespflicht, Liebeslied, <lb n="pwa_365.006"/> Andachtsbuch.</p> <p><lb n="pwa_365.007"/> Besonders deutlich zeigt sich das Streben nach trochäischem <lb n="pwa_365.008"/> Rhythmus da, wo mehrere von einander abhangende Verbalformen <lb n="pwa_365.009"/> einen Satz beschliessen. Nach der strengen Wortfolge sollte man <lb n="pwa_365.010"/> also z. B. sagen: „Der Fromme glaubt nicht, dass ihn Gott verderben <lb n="pwa_365.011"/> lassen wollen werde.“ Zwischen den vier letzten Worten ist aber kein <lb n="pwa_365.012"/> trochäisches Verhältniss mehr, sie bilden vielmehr einen Päon primus <lb n="pwa_365.013"/> (_ ‿ ‿ ‿). Wie nun dieser Fuss auch da, wo es auf rhythmische <lb n="pwa_365.014"/> Zusammenstellung von Silben ankommt, im Deutschen wegen der <lb n="pwa_365.015"/> Aufeinanderfolge von drei unbetonten Silben unmöglich ist, so duldet <lb n="pwa_365.016"/> man auch nicht jenen Päon von Worten, sondern man stellt sie so <lb n="pwa_365.017"/> um, dass der Satz trochäischen Schluss erhält und sagt: „Der Fromme <lb n="pwa_365.018"/> glaubt nicht, dass ihn Gott werde wollen verderben lassen.“</p> <p><lb n="pwa_365.019"/> Von der rhythmischen Gestaltung des Satzes im Allgemeinen unterscheidet <lb n="pwa_365.020"/> sich wesentlich die rhythmische Anordnung der einzelnen Silben. <lb n="pwa_365.021"/> Diese gehört zur Technik der Poesie, wo schöne Form verlangt <lb n="pwa_365.022"/> wird. In der deutschen Poesie überwiegt bei weitem der jambische <lb n="pwa_365.023"/> Rhythmus, und es beruht hierauf eben auch die Verschiedenheit von <lb n="pwa_365.024"/> der Prosa. Diese, als der unmittelbare Ausdruck des Verstandes, <lb n="pwa_365.025"/> bleibt bei dem trochäischen Rhythmus stehn, und in demselben Grade, <lb n="pwa_365.026"/> als die Poesie das Widerspiel gegen die Prosa zu halten trachtet, wird <lb n="pwa_365.027"/> in dieser Alles vermieden, was in die poetischen Rhythmen hinüberspielen <lb n="pwa_365.028"/> könnte. Aber auch der trochäische Rhythmus darf in der Prosa <lb n="pwa_365.029"/> nur im Ganzen und Grossen vorkommen, und es gilt als ein Fehler, <lb n="pwa_365.030"/> wenn in einem Satze Silbe für Silbe Hebung und Senkung mit einander <lb n="pwa_365.031"/> wechseln, wenn die einzelnen Worte Trochäen bilden, wie etwa <lb n="pwa_365.032"/> in folgendem Satze: „Wenn wir immer glücklich und zufrieden leben <lb n="pwa_365.033"/> wollen, müssen wir vor allen Dingen nicht so viel bedürfen.“ Oder <lb n="pwa_365.034"/> bei Wieland: „Die Streitigkeiten mussten unvermerkt den Geist der <lb n="pwa_365.035"/> Liebe, der Eintracht ersticken, der aus allen Gemeinden einen einzigen <lb n="pwa_365.036"/> Leib, deren Seele Christus wäre, hätte machen sollen.“</p> <p><lb n="pwa_365.037"/> Nicht minder falsch ist es, wenn die Prosa in dactylischen Rhythmus <lb n="pwa_365.038"/> verfällt: z. B. „Grünende Matten und blühende Bäume wechseln, <lb n="pwa_365.039"/> so weit man das Auge sendet;“ oder wenn man in Jamben hinein <lb n="pwa_365.040"/> geräth, was da besonders häufig ist, wo man sich aus der Abhandlung <lb n="pwa_365.041"/> in das Gebiet der Rede oder aus der Erzählung in das der Poesie </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [365/0383]
pwa_365.001
verhält es sich mit der genitivischen Bekleidung eines Substantivums: pwa_365.002
während jetzt der Genitiv seinen Platz meist hinter dem bekleideten, pwa_365.003
regierenden Substantiv hat, stellte ihn die ältere Sprache pwa_365.004
vorzugsweise vor dasselbe, wie diess noch in vielen Zusammensetzungen pwa_365.005
zu sehen ist, z. B. Freundesdienst, Kindespflicht, Liebeslied, pwa_365.006
Andachtsbuch.
pwa_365.007
Besonders deutlich zeigt sich das Streben nach trochäischem pwa_365.008
Rhythmus da, wo mehrere von einander abhangende Verbalformen pwa_365.009
einen Satz beschliessen. Nach der strengen Wortfolge sollte man pwa_365.010
also z. B. sagen: „Der Fromme glaubt nicht, dass ihn Gott verderben pwa_365.011
lassen wollen werde.“ Zwischen den vier letzten Worten ist aber kein pwa_365.012
trochäisches Verhältniss mehr, sie bilden vielmehr einen Päon primus pwa_365.013
(_ ‿ ‿ ‿). Wie nun dieser Fuss auch da, wo es auf rhythmische pwa_365.014
Zusammenstellung von Silben ankommt, im Deutschen wegen der pwa_365.015
Aufeinanderfolge von drei unbetonten Silben unmöglich ist, so duldet pwa_365.016
man auch nicht jenen Päon von Worten, sondern man stellt sie so pwa_365.017
um, dass der Satz trochäischen Schluss erhält und sagt: „Der Fromme pwa_365.018
glaubt nicht, dass ihn Gott werde wollen verderben lassen.“
pwa_365.019
Von der rhythmischen Gestaltung des Satzes im Allgemeinen unterscheidet pwa_365.020
sich wesentlich die rhythmische Anordnung der einzelnen Silben. pwa_365.021
Diese gehört zur Technik der Poesie, wo schöne Form verlangt pwa_365.022
wird. In der deutschen Poesie überwiegt bei weitem der jambische pwa_365.023
Rhythmus, und es beruht hierauf eben auch die Verschiedenheit von pwa_365.024
der Prosa. Diese, als der unmittelbare Ausdruck des Verstandes, pwa_365.025
bleibt bei dem trochäischen Rhythmus stehn, und in demselben Grade, pwa_365.026
als die Poesie das Widerspiel gegen die Prosa zu halten trachtet, wird pwa_365.027
in dieser Alles vermieden, was in die poetischen Rhythmen hinüberspielen pwa_365.028
könnte. Aber auch der trochäische Rhythmus darf in der Prosa pwa_365.029
nur im Ganzen und Grossen vorkommen, und es gilt als ein Fehler, pwa_365.030
wenn in einem Satze Silbe für Silbe Hebung und Senkung mit einander pwa_365.031
wechseln, wenn die einzelnen Worte Trochäen bilden, wie etwa pwa_365.032
in folgendem Satze: „Wenn wir immer glücklich und zufrieden leben pwa_365.033
wollen, müssen wir vor allen Dingen nicht so viel bedürfen.“ Oder pwa_365.034
bei Wieland: „Die Streitigkeiten mussten unvermerkt den Geist der pwa_365.035
Liebe, der Eintracht ersticken, der aus allen Gemeinden einen einzigen pwa_365.036
Leib, deren Seele Christus wäre, hätte machen sollen.“
pwa_365.037
Nicht minder falsch ist es, wenn die Prosa in dactylischen Rhythmus pwa_365.038
verfällt: z. B. „Grünende Matten und blühende Bäume wechseln, pwa_365.039
so weit man das Auge sendet;“ oder wenn man in Jamben hinein pwa_365.040
geräth, was da besonders häufig ist, wo man sich aus der Abhandlung pwa_365.041
in das Gebiet der Rede oder aus der Erzählung in das der Poesie
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |