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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Diess Verhältniss ist natürlich, weil es eine Grundregel der deutschen pwa_364.002
Sprache ist, dass auf die erste Silbe eines Wortes der höhere oder pwa_364.003
der einzige Ton fällt; hievon machen nur Composita eine Ausnahme. pwa_364.004
Den einzelnen Worten können wir nun auch hier wieder die Sätze pwa_364.005
parallel gegenüber stellen. Wie die einzelnen Worte trochäisch sind, pwa_364.006
so ist auch der Rhythmus des einfachen Satzes und der Periode ein pwa_364.007
trochäischer: auch der Satz beginnt mit einem gehobenen Gliede und pwa_364.008
endigt mit einem gesenkten; er kann mithin als ein einziger Trochäus pwa_364.009
aufgefasst werden. Dieser trochäische Rhythmus zeigt sich schon bei pwa_364.010
dem einfachsten Satze. Jeder Satz beginnt, wenn er die gewöhnliche pwa_364.011
Wortfolge hat, mit dem würdigsten Worte, dem Subject und dem pwa_364.012
Verb, und schliesst mit dem minder bedeutenden. In dem Satze: pwa_364.013
"Gott lenkt die Welt" bilden das Subject und das Verb die Hebung, pwa_364.014
das Object die Senkung. Wenn aber ein anderes Glied als das pwa_364.015
Subject den Hauptton hat und die höchste Würde anspricht, so pwa_364.016
darf das Subject nicht an der Spitze des Satzes bleiben, es tritt eine pwa_364.017
Hauptinversion ein, wodurch wiederum der trochäische Rhythmus hergestellt pwa_364.018
wird: z. B. "Also hat Gott die Welt geliebt"; hier ruht auf dem pwa_364.019
ersten Worte der Hochton; der Schluss des Satzes ist tieftonig. Eine pwa_364.020
Ausnahme von dieser allgemein gültigen Regel machen bloss die pwa_364.021
Fragesätze: hier ist der Rhythmus des Satzes ein iambischer, die pwa_364.022
Stimme erhebt sich am Ende desselben um anzuzeigen, dass der pwa_364.023
Gedanke unvollständig sei; die Senkung soll erst durch die Antwort pwa_364.024
hinzugefügt werden. Abgesehen von dieser einen Ausnahme liegt die pwa_364.025
Senkung immer am Schlusse des Satzes. Es ist daher ein Fehler pwa_364.026
nicht bloss gegen die Ueberschaulichkeit, sondern auch gegen den pwa_364.027
Rhythmus, wenn man, wie wir schon früher (S. 356) gesehen haben, einen pwa_364.028
Satz durch Zwischensätze unterbricht, dass nur ein kleiner Theil übrig pwa_364.029
bleibt: z. B. "Welche Verantwortung ladet man sich auf, wenn man pwa_364.030
die Einsicht der Oberen zu unverdienten Nachlässen, womit nach einer pwa_364.031
nothwendigen Folge Andere wieder beschwert werden, verleitet." Das pwa_364.032
letzte Wort erhält auf diese Weise einen höhern Ton, als ihm eigentlich pwa_364.033
zukommt, und der Rhythmus des Satzes wird jambisch.

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Die allgemeine Regel vom trochäischen Rhythmus spiegelt sich pwa_364.035
auch in der Gestaltung einzelner Satzglieder zurück: höher betonte pwa_364.036
Glieder treten vor die tiefer betonten. Das Substantiv z. B. ist wichtiger pwa_364.037
als das zu seiner Bekleidung dienende Adjectiv. Nun setzt freilich pwa_364.038
die heutige Sprache das Adjectiv vor das Substantiv, so dass pwa_364.039
jambischer Rhythmus entsteht; die alte Sprache verfuhr umgekehrt, pwa_364.040
sie setzte das Adjectiv gern hinter das Substantiv, ein Gebrauch, der pwa_364.041
in der dichterischen Sprache auch jetzt noch häufig genug ist. Umgekehrt

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Diess Verhältniss ist natürlich, weil es eine Grundregel der deutschen pwa_364.002
Sprache ist, dass auf die erste Silbe eines Wortes der höhere oder pwa_364.003
der einzige Ton fällt; hievon machen nur Composita eine Ausnahme. pwa_364.004
Den einzelnen Worten können wir nun auch hier wieder die Sätze pwa_364.005
parallel gegenüber stellen. Wie die einzelnen Worte trochäisch sind, pwa_364.006
so ist auch der Rhythmus des einfachen Satzes und der Periode ein pwa_364.007
trochäischer: auch der Satz beginnt mit einem gehobenen Gliede und pwa_364.008
endigt mit einem gesenkten; er kann mithin als ein einziger Trochäus pwa_364.009
aufgefasst werden. Dieser trochäische Rhythmus zeigt sich schon bei pwa_364.010
dem einfachsten Satze. Jeder Satz beginnt, wenn er die gewöhnliche pwa_364.011
Wortfolge hat, mit dem würdigsten Worte, dem Subject und dem pwa_364.012
Verb, und schliesst mit dem minder bedeutenden. In dem Satze: pwa_364.013
„Gott lenkt die Welt“ bilden das Subject und das Verb die Hebung, pwa_364.014
das Object die Senkung. Wenn aber ein anderes Glied als das pwa_364.015
Subject den Hauptton hat und die höchste Würde anspricht, so pwa_364.016
darf das Subject nicht an der Spitze des Satzes bleiben, es tritt eine pwa_364.017
Hauptinversion ein, wodurch wiederum der trochäische Rhythmus hergestellt pwa_364.018
wird: z. B. „Also hat Gott die Welt geliebt“; hier ruht auf dem pwa_364.019
ersten Worte der Hochton; der Schluss des Satzes ist tieftonig. Eine pwa_364.020
Ausnahme von dieser allgemein gültigen Regel machen bloss die pwa_364.021
Fragesätze: hier ist der Rhythmus des Satzes ein iambischer, die pwa_364.022
Stimme erhebt sich am Ende desselben um anzuzeigen, dass der pwa_364.023
Gedanke unvollständig sei; die Senkung soll erst durch die Antwort pwa_364.024
hinzugefügt werden. Abgesehen von dieser einen Ausnahme liegt die pwa_364.025
Senkung immer am Schlusse des Satzes. Es ist daher ein Fehler pwa_364.026
nicht bloss gegen die Ueberschaulichkeit, sondern auch gegen den pwa_364.027
Rhythmus, wenn man, wie wir schon früher (S. 356) gesehen haben, einen pwa_364.028
Satz durch Zwischensätze unterbricht, dass nur ein kleiner Theil übrig pwa_364.029
bleibt: z. B. „Welche Verantwortung ladet man sich auf, wenn man pwa_364.030
die Einsicht der Oberen zu unverdienten Nachlässen, womit nach einer pwa_364.031
nothwendigen Folge Andere wieder beschwert werden, verleitet.“ Das pwa_364.032
letzte Wort erhält auf diese Weise einen höhern Ton, als ihm eigentlich pwa_364.033
zukommt, und der Rhythmus des Satzes wird jambisch.

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Die allgemeine Regel vom trochäischen Rhythmus spiegelt sich pwa_364.035
auch in der Gestaltung einzelner Satzglieder zurück: höher betonte pwa_364.036
Glieder treten vor die tiefer betonten. Das Substantiv z. B. ist wichtiger pwa_364.037
als das zu seiner Bekleidung dienende Adjectiv. Nun setzt freilich pwa_364.038
die heutige Sprache das Adjectiv vor das Substantiv, so dass pwa_364.039
jambischer Rhythmus entsteht; die alte Sprache verfuhr umgekehrt, pwa_364.040
sie setzte das Adjectiv gern hinter das Substantiv, ein Gebrauch, der pwa_364.041
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[364/0382] pwa_364.001 Diess Verhältniss ist natürlich, weil es eine Grundregel der deutschen pwa_364.002 Sprache ist, dass auf die erste Silbe eines Wortes der höhere oder pwa_364.003 der einzige Ton fällt; hievon machen nur Composita eine Ausnahme. pwa_364.004 Den einzelnen Worten können wir nun auch hier wieder die Sätze pwa_364.005 parallel gegenüber stellen. Wie die einzelnen Worte trochäisch sind, pwa_364.006 so ist auch der Rhythmus des einfachen Satzes und der Periode ein pwa_364.007 trochäischer: auch der Satz beginnt mit einem gehobenen Gliede und pwa_364.008 endigt mit einem gesenkten; er kann mithin als ein einziger Trochäus pwa_364.009 aufgefasst werden. Dieser trochäische Rhythmus zeigt sich schon bei pwa_364.010 dem einfachsten Satze. Jeder Satz beginnt, wenn er die gewöhnliche pwa_364.011 Wortfolge hat, mit dem würdigsten Worte, dem Subject und dem pwa_364.012 Verb, und schliesst mit dem minder bedeutenden. In dem Satze: pwa_364.013 „Gott lenkt die Welt“ bilden das Subject und das Verb die Hebung, pwa_364.014 das Object die Senkung. Wenn aber ein anderes Glied als das pwa_364.015 Subject den Hauptton hat und die höchste Würde anspricht, so pwa_364.016 darf das Subject nicht an der Spitze des Satzes bleiben, es tritt eine pwa_364.017 Hauptinversion ein, wodurch wiederum der trochäische Rhythmus hergestellt pwa_364.018 wird: z. B. „Also hat Gott die Welt geliebt“; hier ruht auf dem pwa_364.019 ersten Worte der Hochton; der Schluss des Satzes ist tieftonig. Eine pwa_364.020 Ausnahme von dieser allgemein gültigen Regel machen bloss die pwa_364.021 Fragesätze: hier ist der Rhythmus des Satzes ein iambischer, die pwa_364.022 Stimme erhebt sich am Ende desselben um anzuzeigen, dass der pwa_364.023 Gedanke unvollständig sei; die Senkung soll erst durch die Antwort pwa_364.024 hinzugefügt werden. Abgesehen von dieser einen Ausnahme liegt die pwa_364.025 Senkung immer am Schlusse des Satzes. Es ist daher ein Fehler pwa_364.026 nicht bloss gegen die Ueberschaulichkeit, sondern auch gegen den pwa_364.027 Rhythmus, wenn man, wie wir schon früher (S. 356) gesehen haben, einen pwa_364.028 Satz durch Zwischensätze unterbricht, dass nur ein kleiner Theil übrig pwa_364.029 bleibt: z. B. „Welche Verantwortung ladet man sich auf, wenn man pwa_364.030 die Einsicht der Oberen zu unverdienten Nachlässen, womit nach einer pwa_364.031 nothwendigen Folge Andere wieder beschwert werden, verleitet.“ Das pwa_364.032 letzte Wort erhält auf diese Weise einen höhern Ton, als ihm eigentlich pwa_364.033 zukommt, und der Rhythmus des Satzes wird jambisch. pwa_364.034 Die allgemeine Regel vom trochäischen Rhythmus spiegelt sich pwa_364.035 auch in der Gestaltung einzelner Satzglieder zurück: höher betonte pwa_364.036 Glieder treten vor die tiefer betonten. Das Substantiv z. B. ist wichtiger pwa_364.037 als das zu seiner Bekleidung dienende Adjectiv. Nun setzt freilich pwa_364.038 die heutige Sprache das Adjectiv vor das Substantiv, so dass pwa_364.039 jambischer Rhythmus entsteht; die alte Sprache verfuhr umgekehrt, pwa_364.040 sie setzte das Adjectiv gern hinter das Substantiv, ein Gebrauch, der pwa_364.041 in der dichterischen Sprache auch jetzt noch häufig genug ist. Umgekehrt

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/382>, abgerufen am 22.11.2024.