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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Poesie sich in der didactischen Prosa vorfinden: aber wohl haben in pwa_323.002
umgekehrter, aufsteigender Reihenfolge die Regeln der didactischen pwa_323.003
Prosa ihre Bedeutung auch noch für die epische Poesie, und die Regeln pwa_323.004
der epischen Poesie äussern sich auch noch auf dem Gebiete der pwa_323.005
Lyrik. Solch ein Verhältniss ist auch ganz natürlich, da der Verstand pwa_323.006
an epischen Schöpfungen immer noch seinen Antheil hat, und da die pwa_323.007
lyrische Poesie hervorgegangen ist aus der epischen. Und so ist in pwa_323.008
den Umfang der zweiten Gattung zugleich die erste, in den Umfang pwa_323.009
der dritten zugleich die erste und die zweite mit einbegriffen. Die pwa_323.010
verständige prosaische Darstellung ist nur durch sich selbst bedingt; pwa_323.011
der Stil der Einbildung aber unterliegt neben seinen eigenen Gesetzen pwa_323.012
auch noch den Gesetzen des prosaischen Stils, und beiderlei Gesetze pwa_323.013
zugleich stellen sich endlich auf dem Gebiete der dritten Gattung, pwa_323.014
dem des leidenschaftlichen Stils, neben diejenigen, welche hier ihre pwa_323.015
besondere Geltung haben. Natürlich ist diese sich fortpflanzende Wirksamkeit pwa_323.016
immer nur eine untergeordnete, und namentlich machen sich pwa_323.017
die Regeln des Prosastiles in der poetischen Darstellung mehr nur pwa_323.018
von ihrer negativen Seite bemerkbar, mehr insofern sie verbieten, als pwa_323.019
insofern sie fordern, wie ja überhaupt an den Schöpfungen der Poesie pwa_323.020
der Verstand nur einen negativen Antheil hat, keinen positiven.

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So viel war nöthig im Allgemeinen und einleitungsweise zu bemerken. pwa_323.022
Wir gehn von hier an zur näheren Besprechung der einzelnen pwa_323.023
drei Hauptgattungen über; da wird denn auch Manches, was bisher pwa_323.024
nur konnte angedeutet werden, seine auch beweisende und deutlicher pwa_323.025
machende Erörterung finden.

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II. VOM STIL IM BESONDERN.
pwa_323.027
1. DER STIL DES VERSTANDES.

pwa_323.028
Wir haben es hier, allgemein betrachtet und ausgedrückt, mit pwa_323.029
dem Prosastile zu thun. Bei den Griechen hiess alle und jede Prosa pwa_323.030
psilos logos, die nackte, kahle Rede, d. i. entweder s. v. a. die unumwundene, pwa_323.031
ungeschmückte, oder auch s. v. a. die leichtgewaffnete, die pwa_323.032
nicht mit den schweren Waffen der Hopliten kämpft: für letztere pwa_323.033
Erklärung spricht der Umstand, dass neben psilos logos die Prosa pwa_323.034
auch pezos logos heisst, die zu Fuss gehende, im Gegensatze der

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Poesie sich in der didactischen Prosa vorfinden: aber wohl haben in pwa_323.002
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So viel war nöthig im Allgemeinen und einleitungsweise zu bemerken. pwa_323.022
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II. VOM STIL IM BESONDERN.
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1. DER STIL DES VERSTANDES.

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ungeschmückte, oder auch s. v. a. die leichtgewaffnete, die pwa_323.032
nicht mit den schweren Waffen der Hopliten kämpft: für letztere pwa_323.033
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/341>, abgerufen am 15.05.2024.