Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_322.001 pwa_322.011 pwa_322.025 pwa_322.001 pwa_322.011 pwa_322.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0340" n="322"/><lb n="pwa_322.001"/> war. Walther von der Vogelweide sagt einmal (S. 60 Wack.): „Ich <lb n="pwa_322.002"/> traf dâ her vil rehte drîer slahte sanc, den hôhen und den nidern <lb n="pwa_322.003"/> und den mittelswanc, daʒ mir die rederîchen iegeslîches sagten danc.“ <lb n="pwa_322.004"/> Dante aber, in seiner Schrift de vulgari eloquio, unterscheidet für <lb n="pwa_322.005"/> alle Poesie überhaupt drei Gattungen des Stiles, den komischen, den <lb n="pwa_322.006"/> elegischen, den tragischen, entsprechend dem niederen, dem mittleren, <lb n="pwa_322.007"/> dem höheren; sein grosses allegorisch lehrendes Gedicht nannte er <lb n="pwa_322.008"/> <hi rendition="#i">Commedia,</hi> weil es nach seiner eigenen Ansicht und Stilistik dieser <lb n="pwa_322.009"/> Gattung angehörte; eine „göttliche“ Comödie machte daraus erst die <lb n="pwa_322.010"/> Bewunderung der Folgezeit.</p> <p><lb n="pwa_322.011"/> Bei dieser dreimal dreigliedrigen Eintheilung in Gattungen und <lb n="pwa_322.012"/> Arten zeigt es sich, dass jedesmal die erste und die dritte vermittelnd <lb n="pwa_322.013"/> und überleitend an der Grenze zweier Gattungen liegen, dass also die <lb n="pwa_322.014"/> höhere Art der verständigen Darstellung, die historische Prosa, und <lb n="pwa_322.015"/> die niedere Art des Stils der Einbildung, die komische Poesie, hier <lb n="pwa_322.016"/> und dort den Uebergang bilden von der einen zur andern Gattung, <lb n="pwa_322.017"/> insofern die historische Prosa gewissermassen schon die Einbildung in <lb n="pwa_322.018"/> Anspruch nimmt, und die komische Poesie wesentlich auch von Wirksamkeit <lb n="pwa_322.019"/> des Verstandes erfüllt ist. Ebenso weist von dem Gebiete <lb n="pwa_322.020"/> der Einbildung die höhere Art dieses Stils, die tragische Poesie, <lb n="pwa_322.021"/> schon vorwärts hin nach dem Gebiete des Gefühls, und von dem <lb n="pwa_322.022"/> Gebiete des Gefühls deuten wiederum die beiden niederen Arten, <lb n="pwa_322.023"/> die Elegie zurück auf den Stil der Einbildung und die Homilie auf <lb n="pwa_322.024"/> den des Verstandes.</p> <p><lb n="pwa_322.025"/> Aus diesem vorwärts und rückwärts gerichteten Uebergreifen <lb n="pwa_322.026"/> ergiebt es sich, dass die Stilistik mit ihren Gesetzen und Regeln <lb n="pwa_322.027"/> unmöglich eine Gattung ganz scharf und entschieden von der andern <lb n="pwa_322.028"/> absondern könne, dass vielmehr Vieles, was sie z. B. von dem Stil <lb n="pwa_322.029"/> der Einbildung sagt, auch von dem des Gefühles gelten werde, und <lb n="pwa_322.030"/> umgekehrt. Einschränkende und ausschliessende Gültigkeit werden <lb n="pwa_322.031"/> die characteristischen Regeln jeder Gattung immer nur für diejenige <lb n="pwa_322.032"/> Art besitzen, die in keinem solchen Grenzverhältniss zu einer andern <lb n="pwa_322.033"/> Gattung steht. Es werden also die Regeln des verständigen Stils ihre <lb n="pwa_322.034"/> volle, unverkürzte Anwendung nur auf die lehrende Prosa finden; die <lb n="pwa_322.035"/> Regeln des Stiles der Einbildung nur auf die epische Poesie, die <lb n="pwa_322.036"/> Regeln endlich der leidenschaftlichen Darstellung nur auf das Lied <lb n="pwa_322.037"/> und die Ode, auf die weltliche Rede und die Predigt. Und auch so <lb n="pwa_322.038"/> stehn die drei Gattungen des Stils keinesweges in dem vollen Verhältniss <lb n="pwa_322.039"/> einer gegenseitigen Ausschliessung. Es darf zwar kein characteristisches <lb n="pwa_322.040"/> Merkmal der lyrischen Poesie sich vorfinden in epischen <lb n="pwa_322.041"/> Gedichten, und ebenso kein characteristisches Merkmal der epischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [322/0340]
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war. Walther von der Vogelweide sagt einmal (S. 60 Wack.): „Ich pwa_322.002
traf dâ her vil rehte drîer slahte sanc, den hôhen und den nidern pwa_322.003
und den mittelswanc, daʒ mir die rederîchen iegeslîches sagten danc.“ pwa_322.004
Dante aber, in seiner Schrift de vulgari eloquio, unterscheidet für pwa_322.005
alle Poesie überhaupt drei Gattungen des Stiles, den komischen, den pwa_322.006
elegischen, den tragischen, entsprechend dem niederen, dem mittleren, pwa_322.007
dem höheren; sein grosses allegorisch lehrendes Gedicht nannte er pwa_322.008
Commedia, weil es nach seiner eigenen Ansicht und Stilistik dieser pwa_322.009
Gattung angehörte; eine „göttliche“ Comödie machte daraus erst die pwa_322.010
Bewunderung der Folgezeit.
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Bei dieser dreimal dreigliedrigen Eintheilung in Gattungen und pwa_322.012
Arten zeigt es sich, dass jedesmal die erste und die dritte vermittelnd pwa_322.013
und überleitend an der Grenze zweier Gattungen liegen, dass also die pwa_322.014
höhere Art der verständigen Darstellung, die historische Prosa, und pwa_322.015
die niedere Art des Stils der Einbildung, die komische Poesie, hier pwa_322.016
und dort den Uebergang bilden von der einen zur andern Gattung, pwa_322.017
insofern die historische Prosa gewissermassen schon die Einbildung in pwa_322.018
Anspruch nimmt, und die komische Poesie wesentlich auch von Wirksamkeit pwa_322.019
des Verstandes erfüllt ist. Ebenso weist von dem Gebiete pwa_322.020
der Einbildung die höhere Art dieses Stils, die tragische Poesie, pwa_322.021
schon vorwärts hin nach dem Gebiete des Gefühls, und von dem pwa_322.022
Gebiete des Gefühls deuten wiederum die beiden niederen Arten, pwa_322.023
die Elegie zurück auf den Stil der Einbildung und die Homilie auf pwa_322.024
den des Verstandes.
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Aus diesem vorwärts und rückwärts gerichteten Uebergreifen pwa_322.026
ergiebt es sich, dass die Stilistik mit ihren Gesetzen und Regeln pwa_322.027
unmöglich eine Gattung ganz scharf und entschieden von der andern pwa_322.028
absondern könne, dass vielmehr Vieles, was sie z. B. von dem Stil pwa_322.029
der Einbildung sagt, auch von dem des Gefühles gelten werde, und pwa_322.030
umgekehrt. Einschränkende und ausschliessende Gültigkeit werden pwa_322.031
die characteristischen Regeln jeder Gattung immer nur für diejenige pwa_322.032
Art besitzen, die in keinem solchen Grenzverhältniss zu einer andern pwa_322.033
Gattung steht. Es werden also die Regeln des verständigen Stils ihre pwa_322.034
volle, unverkürzte Anwendung nur auf die lehrende Prosa finden; die pwa_322.035
Regeln des Stiles der Einbildung nur auf die epische Poesie, die pwa_322.036
Regeln endlich der leidenschaftlichen Darstellung nur auf das Lied pwa_322.037
und die Ode, auf die weltliche Rede und die Predigt. Und auch so pwa_322.038
stehn die drei Gattungen des Stils keinesweges in dem vollen Verhältniss pwa_322.039
einer gegenseitigen Ausschliessung. Es darf zwar kein characteristisches pwa_322.040
Merkmal der lyrischen Poesie sich vorfinden in epischen pwa_322.041
Gedichten, und ebenso kein characteristisches Merkmal der epischen
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