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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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uns überliefert ist, recht zu verstehn und zu geniessen, als Kunstgriffe pwa_016.002
angeben, wie man diesen Vorrath selbst noch vermehren könne. Wenn pwa_016.003
die Poetik nur Philosophie der Poesie und ihrer Geschichte ist, wenn pwa_016.004
sie als Naturgeschichte der Poesie ein mehr historisch entwickelndes pwa_016.005
Verfahren beobachtet, gewinnt diess ganze Fach an concretem Gehalt pwa_016.006
und somit an Leben und Reiz; die Lehrsätze bleiben darum nicht pwa_016.007
aus: nur erscheinen sie dann nicht als eine unerquickliche Reihe von pwa_016.008
dürren Abstractionen. Und diese historisch-philosophische, diese pwa_016.009
naturgeschichtliche Weise ist es, in der ich beabsichtige zu verfahren.

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I. VON DER POESIE IM GANZEN UND ALLGEMEINEN.
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1. DAS WESEN DER POESIE.

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Hier ist die schon früher gegebene Definition weiter auszuführen pwa_016.013
und somit zu begründen, indem wir mehr in das Einzelne gehend von pwa_016.014
den verschiedenen Arten handeln, wie die genannten drei Seelenkräfte, pwa_016.015
Einbildung, Gefühl, Verstand, bei der poetischen Anschauung und pwa_016.016
Schöpfung zusammenwirken, wie sie bald gleichmässig sich mit pwa_016.017
einander mischen, bald eine derselben vorwaltet, bald endlich ein pwa_016.018
unvermittelter Widerspruch und Widerstreit unter ihnen eintritt. Damit pwa_016.019
wird der späteren Trennung der einzelnen Dichtungsarten wesentlich pwa_016.020
vorgearbeitet.

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Wenn mit Aristoteles das Wesen aller Kunst lediglich in der pwa_016.022
Nachahmung zu suchen wäre, so müsste man die Poesie als die pwa_016.023
Nachahmung durch das Wort definieren. Diese Erklärung wäre aber pwa_016.024
zu weit und zu eng. Zu weit, insofern man allerlei in Worten nachahmen pwa_016.025
kann, ohne dass ein Gedicht entsteht. So giebt es z. B. in der pwa_016.026
späteren und mittelalterlichen Latinität Stücke in Prosa und in Versen, pwa_016.027
worin angegeben und nachgebildet wird, wie die einzelnen Vögel und pwa_016.028
andere Thiere schreien1, offenbarste Nachahmung, aber Niemanden pwa_016.029
würde es einfallen, dgl. deshalb Poesie zu nennen. Zu eng wäre die pwa_016.030
Definition, weil mancherlei Arten der Poesie, denen auch Aristoteles pwa_016.031
selbst den Namen der Poesie nicht entzieht, damit ausgeschlossen würden. pwa_016.032
Nachahmung kann immer nur in Beziehung stehn zu Gegenständen, die pwa_016.033
in der äusserlich umgebenden Sinnenwelt vorliegen. Aber nur wenige

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) z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs Poetae latini minores 6, 2, pwa_016.035
388 u. a.

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uns überliefert ist, recht zu verstehn und zu geniessen, als Kunstgriffe pwa_016.002
angeben, wie man diesen Vorrath selbst noch vermehren könne. Wenn pwa_016.003
die Poetik nur Philosophie der Poesie und ihrer Geschichte ist, wenn pwa_016.004
sie als Naturgeschichte der Poesie ein mehr historisch entwickelndes pwa_016.005
Verfahren beobachtet, gewinnt diess ganze Fach an concretem Gehalt pwa_016.006
und somit an Leben und Reiz; die Lehrsätze bleiben darum nicht pwa_016.007
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dürren Abstractionen. Und diese historisch-philosophische, diese pwa_016.009
naturgeschichtliche Weise ist es, in der ich beabsichtige zu verfahren.

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I. VON DER POESIE IM GANZEN UND ALLGEMEINEN.
pwa_016.011
1. DAS WESEN DER POESIE.

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Hier ist die schon früher gegebene Definition weiter auszuführen pwa_016.013
und somit zu begründen, indem wir mehr in das Einzelne gehend von pwa_016.014
den verschiedenen Arten handeln, wie die genannten drei Seelenkräfte, pwa_016.015
Einbildung, Gefühl, Verstand, bei der poetischen Anschauung und pwa_016.016
Schöpfung zusammenwirken, wie sie bald gleichmässig sich mit pwa_016.017
einander mischen, bald eine derselben vorwaltet, bald endlich ein pwa_016.018
unvermittelter Widerspruch und Widerstreit unter ihnen eintritt. Damit pwa_016.019
wird der späteren Trennung der einzelnen Dichtungsarten wesentlich pwa_016.020
vorgearbeitet.

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Wenn mit Aristoteles das Wesen aller Kunst lediglich in der pwa_016.022
Nachahmung zu suchen wäre, so müsste man die Poesie als die pwa_016.023
Nachahmung durch das Wort definieren. Diese Erklärung wäre aber pwa_016.024
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kann, ohne dass ein Gedicht entsteht. So giebt es z. B. in der pwa_016.026
späteren und mittelalterlichen Latinität Stücke in Prosa und in Versen, pwa_016.027
worin angegeben und nachgebildet wird, wie die einzelnen Vögel und pwa_016.028
andere Thiere schreien1, offenbarste Nachahmung, aber Niemanden pwa_016.029
würde es einfallen, dgl. deshalb Poesie zu nennen. Zu eng wäre die pwa_016.030
Definition, weil mancherlei Arten der Poesie, denen auch Aristoteles pwa_016.031
selbst den Namen der Poesie nicht entzieht, damit ausgeschlossen würden. pwa_016.032
Nachahmung kann immer nur in Beziehung stehn zu Gegenständen, die pwa_016.033
in der äusserlich umgebenden Sinnenwelt vorliegen. Aber nur wenige

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) z. B. Juventinus Philomela in Wernsdorfs Poetae latini minores 6, 2, pwa_016.035
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/34>, abgerufen am 21.11.2024.