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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Arten der Poesie geben Anlass, sie möglicher Weise als dgl. Nachahmung pwa_017.002
auffassen zu dürfen; bei vielen ist es rein unmöglich. Was pwa_017.003
ahmt z. B. der Dichter eines Kirchenliedes nach? Aristoteles hat auch pwa_017.004
selbst sehr wohl das Ungenügende seiner Auffassung eingesehn, und pwa_017.005
je weiter er in seinem Buche vorwärts schreitet, je mehr und mehr neue pwa_017.006
theils erweiternde, theils beschränkende Bestimmungen treten auch hinzu; pwa_017.007
Bestimmungen, die jedoch keinesweges in jener Grundansicht schon mit pwa_017.008
enthalten und motiviert sind, die vielmehr auf eine ganz andre Definition pwa_017.009
hinleiten, nämlich die oben aufgestellte, wonach die Poesie als die pwa_017.010
schöne Darstellung des Schönen durch das Wort zu bezeichnen ist.

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Der Anfangspunkt, die Grundlage der dichterischen Thätigkeit pwa_017.012
wie überhaupt jeder künstlerischen ist die innere Anschauung des pwa_017.013
Schönen, ist die Conception der poetischen Idee. Nun ist aber, wie schon pwa_017.014
früher dargestellt, bei jeder künstlerischen Anschauung das am thätigsten pwa_017.015
Wirksame, das Unentbehrlichste, ohne welches gar keine solche pwa_017.016
Conception vor sich gehn kann, die Einbildungskraft; die Einbildungskraft pwa_017.017
aber wirkt entweder reproductiv oder productiv, entweder als pwa_017.018
Gedächtniss, d. h. als Erneuerung und Auffrischung früher gewonnener pwa_017.019
Vorstellungen, oder als Phantasie, d. h. neue Vorstellungen schaffend pwa_017.020
nach Analogie solcher älteren. Aber auch da, wo sie productiv verfährt, pwa_017.021
auch als Phantasie erzeugt die Einbildungskraft niemals etwas pwa_017.022
bis dahin noch nicht Gewesenes, niemals etwas, das bis dahin noch pwa_017.023
unwirklich gewesen war: sondern in beiden Fällen schliesst sie sich pwa_017.024
an die Wirklichkeit an, sei das nun geistige oder sinnliche Wirklichkeit; pwa_017.025
es sind die Formen der geistigen oder der sinnlichen Wirklichkeit, pwa_017.026
vermittelst derer die Einbildungskraft sich des Schönen bemeistert, pwa_017.027
in denen sie das Vollkommene, das in der Mannigfaltigkeit pwa_017.028
einig Abgeschlossene, das in der Einheit mannigfaltig Gestaltete anschaut. pwa_017.029
Hier ist der Punkt, in welchem die Kunst, in welchem auch pwa_017.030
die Poesie sich mit der Natur berührt, aber auch zugleich von ihr pwa_017.031
sich trennt, sich ihr entgegenstellt. Die Natur als Natur giebt blosse pwa_017.032
Form und keinesweges immer schöne: die Kunst, die Poesie dagegen pwa_017.033
zeigt das Schöne und gewährt nicht die blosse Form, sondern falls pwa_017.034
sie sich an die sinnliche Wirklichkeit anschliesst, Anschauungen des pwa_017.035
Schönen in den Formen der sinnlichen Wirklichkeit. Die Poesie ahmt pwa_017.036
also nicht nach, sie dient nicht der Natur, sondern die Natur, die pwa_017.037
sinnliche Wirklichkeit dient ihr, ist ihr helfend untergeordnet. Aber pwa_017.038
die Poesie bedarf der Wirklichkeit; ohne sich an diese anzulehnen, pwa_017.039
giebt es gar keine Poesie: denn jede poetische Conception fusst auf pwa_017.040
der Einbildungskraft, und die Einbildungskraft entnimmt ihre Vorstellungen pwa_017.041
aus der Wirklichkeit.

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Arten der Poesie geben Anlass, sie möglicher Weise als dgl. Nachahmung pwa_017.002
auffassen zu dürfen; bei vielen ist es rein unmöglich. Was pwa_017.003
ahmt z. B. der Dichter eines Kirchenliedes nach? Aristoteles hat auch pwa_017.004
selbst sehr wohl das Ungenügende seiner Auffassung eingesehn, und pwa_017.005
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theils erweiternde, theils beschränkende Bestimmungen treten auch hinzu; pwa_017.007
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enthalten und motiviert sind, die vielmehr auf eine ganz andre Definition pwa_017.009
hinleiten, nämlich die oben aufgestellte, wonach die Poesie als die pwa_017.010
schöne Darstellung des Schönen durch das Wort zu bezeichnen ist.

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Der Anfangspunkt, die Grundlage der dichterischen Thätigkeit pwa_017.012
wie überhaupt jeder künstlerischen ist die innere Anschauung des pwa_017.013
Schönen, ist die Conception der poetischen Idee. Nun ist aber, wie schon pwa_017.014
früher dargestellt, bei jeder künstlerischen Anschauung das am thätigsten pwa_017.015
Wirksame, das Unentbehrlichste, ohne welches gar keine solche pwa_017.016
Conception vor sich gehn kann, die Einbildungskraft; die Einbildungskraft pwa_017.017
aber wirkt entweder reproductiv oder productiv, entweder als pwa_017.018
Gedächtniss, d. h. als Erneuerung und Auffrischung früher gewonnener pwa_017.019
Vorstellungen, oder als Phantasie, d. h. neue Vorstellungen schaffend pwa_017.020
nach Analogie solcher älteren. Aber auch da, wo sie productiv verfährt, pwa_017.021
auch als Phantasie erzeugt die Einbildungskraft niemals etwas pwa_017.022
bis dahin noch nicht Gewesenes, niemals etwas, das bis dahin noch pwa_017.023
unwirklich gewesen war: sondern in beiden Fällen schliesst sie sich pwa_017.024
an die Wirklichkeit an, sei das nun geistige oder sinnliche Wirklichkeit; pwa_017.025
es sind die Formen der geistigen oder der sinnlichen Wirklichkeit, pwa_017.026
vermittelst derer die Einbildungskraft sich des Schönen bemeistert, pwa_017.027
in denen sie das Vollkommene, das in der Mannigfaltigkeit pwa_017.028
einig Abgeschlossene, das in der Einheit mannigfaltig Gestaltete anschaut. pwa_017.029
Hier ist der Punkt, in welchem die Kunst, in welchem auch pwa_017.030
die Poesie sich mit der Natur berührt, aber auch zugleich von ihr pwa_017.031
sich trennt, sich ihr entgegenstellt. Die Natur als Natur giebt blosse pwa_017.032
Form und keinesweges immer schöne: die Kunst, die Poesie dagegen pwa_017.033
zeigt das Schöne und gewährt nicht die blosse Form, sondern falls pwa_017.034
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die Poesie bedarf der Wirklichkeit; ohne sich an diese anzulehnen, pwa_017.039
giebt es gar keine Poesie: denn jede poetische Conception fusst auf pwa_017.040
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[17/0035] pwa_017.001 Arten der Poesie geben Anlass, sie möglicher Weise als dgl. Nachahmung pwa_017.002 auffassen zu dürfen; bei vielen ist es rein unmöglich. Was pwa_017.003 ahmt z. B. der Dichter eines Kirchenliedes nach? Aristoteles hat auch pwa_017.004 selbst sehr wohl das Ungenügende seiner Auffassung eingesehn, und pwa_017.005 je weiter er in seinem Buche vorwärts schreitet, je mehr und mehr neue pwa_017.006 theils erweiternde, theils beschränkende Bestimmungen treten auch hinzu; pwa_017.007 Bestimmungen, die jedoch keinesweges in jener Grundansicht schon mit pwa_017.008 enthalten und motiviert sind, die vielmehr auf eine ganz andre Definition pwa_017.009 hinleiten, nämlich die oben aufgestellte, wonach die Poesie als die pwa_017.010 schöne Darstellung des Schönen durch das Wort zu bezeichnen ist. pwa_017.011 Der Anfangspunkt, die Grundlage der dichterischen Thätigkeit pwa_017.012 wie überhaupt jeder künstlerischen ist die innere Anschauung des pwa_017.013 Schönen, ist die Conception der poetischen Idee. Nun ist aber, wie schon pwa_017.014 früher dargestellt, bei jeder künstlerischen Anschauung das am thätigsten pwa_017.015 Wirksame, das Unentbehrlichste, ohne welches gar keine solche pwa_017.016 Conception vor sich gehn kann, die Einbildungskraft; die Einbildungskraft pwa_017.017 aber wirkt entweder reproductiv oder productiv, entweder als pwa_017.018 Gedächtniss, d. h. als Erneuerung und Auffrischung früher gewonnener pwa_017.019 Vorstellungen, oder als Phantasie, d. h. neue Vorstellungen schaffend pwa_017.020 nach Analogie solcher älteren. Aber auch da, wo sie productiv verfährt, pwa_017.021 auch als Phantasie erzeugt die Einbildungskraft niemals etwas pwa_017.022 bis dahin noch nicht Gewesenes, niemals etwas, das bis dahin noch pwa_017.023 unwirklich gewesen war: sondern in beiden Fällen schliesst sie sich pwa_017.024 an die Wirklichkeit an, sei das nun geistige oder sinnliche Wirklichkeit; pwa_017.025 es sind die Formen der geistigen oder der sinnlichen Wirklichkeit, pwa_017.026 vermittelst derer die Einbildungskraft sich des Schönen bemeistert, pwa_017.027 in denen sie das Vollkommene, das in der Mannigfaltigkeit pwa_017.028 einig Abgeschlossene, das in der Einheit mannigfaltig Gestaltete anschaut. pwa_017.029 Hier ist der Punkt, in welchem die Kunst, in welchem auch pwa_017.030 die Poesie sich mit der Natur berührt, aber auch zugleich von ihr pwa_017.031 sich trennt, sich ihr entgegenstellt. Die Natur als Natur giebt blosse pwa_017.032 Form und keinesweges immer schöne: die Kunst, die Poesie dagegen pwa_017.033 zeigt das Schöne und gewährt nicht die blosse Form, sondern falls pwa_017.034 sie sich an die sinnliche Wirklichkeit anschliesst, Anschauungen des pwa_017.035 Schönen in den Formen der sinnlichen Wirklichkeit. Die Poesie ahmt pwa_017.036 also nicht nach, sie dient nicht der Natur, sondern die Natur, die pwa_017.037 sinnliche Wirklichkeit dient ihr, ist ihr helfend untergeordnet. Aber pwa_017.038 die Poesie bedarf der Wirklichkeit; ohne sich an diese anzulehnen, pwa_017.039 giebt es gar keine Poesie: denn jede poetische Conception fusst auf pwa_017.040 der Einbildungskraft, und die Einbildungskraft entnimmt ihre Vorstellungen pwa_017.041 aus der Wirklichkeit.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/35>, abgerufen am 21.11.2024.