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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Es wäre thöricht, Poetik zu lehren und zu lernen, wenn man pwa_015.002
dabei einen Unterricht im Dichten, eine Anweisung zur Poesie, nichts pwa_015.003
grösseres oder nichts geringeres als dieses beabsichtigte. Wir haben pwa_015.004
gesehen, wie zu jeder künstlerischen, also auch zu einer poetischen pwa_015.005
Conception eine Dreiheit von Seelenvermögen in Anspruch genommen pwa_015.006
wird: diese sind aber keineswegs bei allen Menschen in gleicher Schnellkraft pwa_015.007
und Ausbildung vorhanden; ja es giebt Menschen, so viele, dass pwa_015.008
ihrer wohl die Mehrzahl ist, denen es an der productiven Seite der pwa_015.009
Einbildungskraft, an der Phantasie in solchem Grade gebricht, dass pwa_015.010
sie ihnen ganz und gar zu fehlen scheint; bewegliches, leicht erregtes pwa_015.011
Gefühl besitzt auch nicht jeder, und das constante Gefühl, das Gemüth, pwa_015.012
ist ebenso selten, ja vielleicht noch seltener als die Phantasie. pwa_015.013
Solchen Naturen wäre mit allen Regeln und Anweisungen in nichts pwa_015.014
geholfen; zwar hat der Verstand, an den man sich wenden würde, pwa_015.015
auch seinen Antheil an der künstlerischen Operation, aber nur einen pwa_015.016
Antheil, nur einen untergeordneten, und einen Antheil mehr negativer pwa_015.017
Art. Ein so organisierter Mensch würde dadurch immer noch kein pwa_015.018
Dichter werden. "Wenn der Wahnsinn," sagt Plato im Phaedrus pwa_015.019
S. 245a, "wenn der Wahnsinn (mania, er gebraucht diess starke Wort; pwa_015.020
Begeisterung wäre eine schwächliche Uebersetzung), der von den pwa_015.021
Musen kommt, eine zarte und ungefärbte Seele ergreift und sie zu pwa_015.022
Liedern und zu jeglicher Dichtung begeistert, so verschönt er unzählige pwa_015.023
Thaten der Alten und belehrt die Zukünftigen. Wer aber ohne pwa_015.024
den Wahnsinn der Musen sich den Pforten der Dichtkunst nähert, pwa_015.025
wähnend durch blosse Fertigkeit ein Dichter zu werden, der bleibt pwa_015.026
unvollkommen, und von der Poesie der Wahnsinnigen wird die des pwa_015.027
Verständigen ausgelöscht." Als Anleitung und Unterweisung kann die pwa_015.028
Poetik daher nur für solche tauglich sein, die schon besitzen, was ein pwa_015.029
Dichter braucht: da kann es mitunter gut sein, dem Verstande Zaum pwa_015.030
und Geissel in die Hand zu geben.

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Das Beste bleibt es demnach, wenn sich die Poetik aller eigentlichen pwa_015.032
Unterweisung so viel als möglich enthält, wenn sie mehr betrachtet pwa_015.033
als lehrt, mehr sich bestrebt, Gesetze zu finden als Regeln pwa_015.034
aufzustellen, wenn sie eher anleiten will, den Vorrath an Poesie, der

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Es wäre thöricht, Poetik zu lehren und zu lernen, wenn man pwa_015.002
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ist ebenso selten, ja vielleicht noch seltener als die Phantasie. pwa_015.013
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S. 245a, „wenn der Wahnsinn (μανία, er gebraucht diess starke Wort; pwa_015.020
Begeisterung wäre eine schwächliche Uebersetzung), der von den pwa_015.021
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unvollkommen, und von der Poesie der Wahnsinnigen wird die des pwa_015.027
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Dichter braucht: da kann es mitunter gut sein, dem Verstande Zaum pwa_015.030
und Geissel in die Hand zu geben.

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Das Beste bleibt es demnach, wenn sich die Poetik aller eigentlichen pwa_015.032
Unterweisung so viel als möglich enthält, wenn sie mehr betrachtet pwa_015.033
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[E15/0033] pwa_015.001 Es wäre thöricht, Poetik zu lehren und zu lernen, wenn man pwa_015.002 dabei einen Unterricht im Dichten, eine Anweisung zur Poesie, nichts pwa_015.003 grösseres oder nichts geringeres als dieses beabsichtigte. Wir haben pwa_015.004 gesehen, wie zu jeder künstlerischen, also auch zu einer poetischen pwa_015.005 Conception eine Dreiheit von Seelenvermögen in Anspruch genommen pwa_015.006 wird: diese sind aber keineswegs bei allen Menschen in gleicher Schnellkraft pwa_015.007 und Ausbildung vorhanden; ja es giebt Menschen, so viele, dass pwa_015.008 ihrer wohl die Mehrzahl ist, denen es an der productiven Seite der pwa_015.009 Einbildungskraft, an der Phantasie in solchem Grade gebricht, dass pwa_015.010 sie ihnen ganz und gar zu fehlen scheint; bewegliches, leicht erregtes pwa_015.011 Gefühl besitzt auch nicht jeder, und das constante Gefühl, das Gemüth, pwa_015.012 ist ebenso selten, ja vielleicht noch seltener als die Phantasie. pwa_015.013 Solchen Naturen wäre mit allen Regeln und Anweisungen in nichts pwa_015.014 geholfen; zwar hat der Verstand, an den man sich wenden würde, pwa_015.015 auch seinen Antheil an der künstlerischen Operation, aber nur einen pwa_015.016 Antheil, nur einen untergeordneten, und einen Antheil mehr negativer pwa_015.017 Art. Ein so organisierter Mensch würde dadurch immer noch kein pwa_015.018 Dichter werden. „Wenn der Wahnsinn,“ sagt Plato im Phaedrus pwa_015.019 S. 245a, „wenn der Wahnsinn (μανία, er gebraucht diess starke Wort; pwa_015.020 Begeisterung wäre eine schwächliche Uebersetzung), der von den pwa_015.021 Musen kommt, eine zarte und ungefärbte Seele ergreift und sie zu pwa_015.022 Liedern und zu jeglicher Dichtung begeistert, so verschönt er unzählige pwa_015.023 Thaten der Alten und belehrt die Zukünftigen. Wer aber ohne pwa_015.024 den Wahnsinn der Musen sich den Pforten der Dichtkunst nähert, pwa_015.025 wähnend durch blosse Fertigkeit ein Dichter zu werden, der bleibt pwa_015.026 unvollkommen, und von der Poesie der Wahnsinnigen wird die des pwa_015.027 Verständigen ausgelöscht.“ Als Anleitung und Unterweisung kann die pwa_015.028 Poetik daher nur für solche tauglich sein, die schon besitzen, was ein pwa_015.029 Dichter braucht: da kann es mitunter gut sein, dem Verstande Zaum pwa_015.030 und Geissel in die Hand zu geben. pwa_015.031 Das Beste bleibt es demnach, wenn sich die Poetik aller eigentlichen pwa_015.032 Unterweisung so viel als möglich enthält, wenn sie mehr betrachtet pwa_015.033 als lehrt, mehr sich bestrebt, Gesetze zu finden als Regeln pwa_015.034 aufzustellen, wenn sie eher anleiten will, den Vorrath an Poesie, der

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. E15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/33>, abgerufen am 24.11.2024.