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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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seiner Zuhörer suchen; keinem Redner sei das gestattet und pwa_302.002
gar dem geistlichen am allerwenigsten. Diese Einwendung entspringt pwa_302.003
aus einer mehrfach unrichtigen Voraussetzung. Denn einmal nöthigt pwa_302.004
uns nichts, das griechische Wort pathetisch mit leidenschaftlich zu verdeutschen. pwa_302.005
Den Griechen heisst auch jede vorübergehende Empfindung, pwa_302.006
auch jede nur momentane Erregung und Stimmung des Gefühles, kurz pwa_302.007
Alles, was die Lateiner affectus und auch wir Affect nennen, pathos: pwa_302.008
auch das Mitleid ist ein pathos, auch die Begeisterung. Solche pathe pwa_302.009
aber selbst auszudrücken und in den Zuhörern sie zu erwecken, das pwa_302.010
wird man doch wohl dem Redner nicht verwehren: denn was bliebe pwa_302.011
dem gerichtlichen Redner, wenn man ihm das pathos des Mitleids und pwa_302.012
dergleichen, was dem politischen, wenn man ihm das pathos der vaterländischen, pwa_302.013
was endlich dem geistlichen, wenn man ihm das pathos pwa_302.014
der religiösen Begeisterung benehmen wollte? Und selbst wenn man pwa_302.015
an die Stelle des griechischen Wortes pathetisch das deutsche leidenschaftlich pwa_302.016
setzte, so wäre dieser Ausdruck nicht gradezu verwerflich; pwa_302.017
man könnte ihn nur missverstehn, wenn man ihn missverstehn wollte. pwa_302.018
Dass der Redner keine gemeinen und niedrigen Leidenschaften anregen pwa_302.019
soll, versteht sich, ohne dass die Rhetorik davon handelt, schon aus pwa_302.020
der Sittenlehre und versteht sich schon von selbst um des letzten pwa_302.021
Zweckes aller Beredsamkeit willen, der ja das Gute ist; aber es giebt pwa_302.022
auch höhere, sogenannte edle Leidenschaften, wie z. B. die Liebe, wie pwa_302.023
unter Umständen auch der Hass. Und auf dergleichen Leidenschaften pwa_302.024
wird jeder Redner, der geistliche wie der weltliche, hinarbeiten dürfen, pwa_302.025
auf Liebe zu Gott und dem Nächsten, auf Hass gegen die Sünde pwa_302.026
u. s. w. Der griechische Name pathetisch ist jedoch vorzuziehen, deswegen pwa_302.027
weil pathos beides in sich begreift, den vorübergehenden Affect pwa_302.028
des Gefühls und die andauernde Leidenschaft des Gemüthes, während pwa_302.029
wir zwischen diesen beiden einen Unterschied machen, wenigstens die pwa_302.030
Sprache der Wissenschaft. Im pathetischen Theil kann es aber sowohl pwa_302.031
auf blossen Affect als auch auf Leidenschaft abgesehen sein.

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Endlich der Beschluss. Mit diesem letzten Gliede der conclusio pwa_302.033
und der ganzen Rede gelangt der Redner ebendahin, wo er dieselbe pwa_302.034
mit dem ersten Gliede des Exordiums oder Einganges, zugleich dem pwa_302.035
ersten der ganzen Rede, begonnen hatte; der Beschluss im engeren pwa_302.036
Sinne des Wortes entspricht der captatio benevolentiae, die man ja pwa_302.037
auch vorzugsweise den Eingang nennt. Beide richten sich an das Gefühl; pwa_302.038
aber es bestehn zwischen beiden diejenigen Unterschiede, welche durch pwa_302.039
die verschiedene Stellung, die sie in der Rede einnehmen, geboten pwa_302.040
sind. Im ersten Gliede des Exordiums darf der Redner das Gefühl pwa_302.041
und somit den Willen seiner Zuhörer noch nicht direct für den beabsichtigten

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seiner Zuhörer suchen; keinem Redner sei das gestattet und pwa_302.002
gar dem geistlichen am allerwenigsten. Diese Einwendung entspringt pwa_302.003
aus einer mehrfach unrichtigen Voraussetzung. Denn einmal nöthigt pwa_302.004
uns nichts, das griechische Wort pathetisch mit leidenschaftlich zu verdeutschen. pwa_302.005
Den Griechen heisst auch jede vorübergehende Empfindung, pwa_302.006
auch jede nur momentane Erregung und Stimmung des Gefühles, kurz pwa_302.007
Alles, was die Lateiner affectus und auch wir Affect nennen, πάθος: pwa_302.008
auch das Mitleid ist ein πάθος, auch die Begeisterung. Solche πάθη pwa_302.009
aber selbst auszudrücken und in den Zuhörern sie zu erwecken, das pwa_302.010
wird man doch wohl dem Redner nicht verwehren: denn was bliebe pwa_302.011
dem gerichtlichen Redner, wenn man ihm das πάθος des Mitleids und pwa_302.012
dergleichen, was dem politischen, wenn man ihm das πάθος der vaterländischen, pwa_302.013
was endlich dem geistlichen, wenn man ihm das πάθος pwa_302.014
der religiösen Begeisterung benehmen wollte? Und selbst wenn man pwa_302.015
an die Stelle des griechischen Wortes pathetisch das deutsche leidenschaftlich pwa_302.016
setzte, so wäre dieser Ausdruck nicht gradezu verwerflich; pwa_302.017
man könnte ihn nur missverstehn, wenn man ihn missverstehn wollte. pwa_302.018
Dass der Redner keine gemeinen und niedrigen Leidenschaften anregen pwa_302.019
soll, versteht sich, ohne dass die Rhetorik davon handelt, schon aus pwa_302.020
der Sittenlehre und versteht sich schon von selbst um des letzten pwa_302.021
Zweckes aller Beredsamkeit willen, der ja das Gute ist; aber es giebt pwa_302.022
auch höhere, sogenannte edle Leidenschaften, wie z. B. die Liebe, wie pwa_302.023
unter Umständen auch der Hass. Und auf dergleichen Leidenschaften pwa_302.024
wird jeder Redner, der geistliche wie der weltliche, hinarbeiten dürfen, pwa_302.025
auf Liebe zu Gott und dem Nächsten, auf Hass gegen die Sünde pwa_302.026
u. s. w. Der griechische Name pathetisch ist jedoch vorzuziehen, deswegen pwa_302.027
weil πάθος beides in sich begreift, den vorübergehenden Affect pwa_302.028
des Gefühls und die andauernde Leidenschaft des Gemüthes, während pwa_302.029
wir zwischen diesen beiden einen Unterschied machen, wenigstens die pwa_302.030
Sprache der Wissenschaft. Im pathetischen Theil kann es aber sowohl pwa_302.031
auf blossen Affect als auch auf Leidenschaft abgesehen sein.

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Endlich der Beschluss. Mit diesem letzten Gliede der conclusio pwa_302.033
und der ganzen Rede gelangt der Redner ebendahin, wo er dieselbe pwa_302.034
mit dem ersten Gliede des Exordiums oder Einganges, zugleich dem pwa_302.035
ersten der ganzen Rede, begonnen hatte; der Beschluss im engeren pwa_302.036
Sinne des Wortes entspricht der captatio benevolentiae, die man ja pwa_302.037
auch vorzugsweise den Eingang nennt. Beide richten sich an das Gefühl; pwa_302.038
aber es bestehn zwischen beiden diejenigen Unterschiede, welche durch pwa_302.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/320>, abgerufen am 24.11.2024.