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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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auf das grade vorliegende Thema, eines Gebetes, das also verschieden pwa_292.002
ist von dem, welches bereits die Liturgie vorschreibt, und welches sich pwa_292.003
bei jeder kirchlichen Versammlung wörtlich wiederholt. Aber in Rücksicht pwa_292.004
auf die Stelle des Einganges, an welche diess Gebet zu verlegen pwa_292.005
sei, herrscht keine durchgreifend gleichmässige Uebung: man bringt es pwa_292.006
bald an den Anfang, bald an das Ende des Exordiums; die Homiletik pwa_292.007
pflegt, wie vorher von Neuem ist erwähnt worden, das Erstere vorzuschreiben. pwa_292.008
Es lassen sich für das Eine wie das Andere, und pwa_292.009
auch gegen das Eine und das Andere mehrfache Gründe anführen. pwa_292.010
Für die Stellung des Gebetes gleich an den ersten Anfang des pwa_292.011
Exordiums, also zuvörderst an die Spitze der ganzen Predigt, spricht pwa_292.012
einmal, dass dieser Ort derjenigen Bedeutung, die ein solches pwa_292.013
Gebet haben soll, am meisten angemessen erscheint: denn es ist pwa_292.014
ja ein eigentliches Weihegebet, eine Bitte um Segen zu einem pwa_292.015
Werke, das man beginne: da gehört es natürlich auch am besten an pwa_292.016
den wirklichen Beginn, an den Anfang des Einganges, nicht an dessen pwa_292.017
Ende. Sodann lässt sich kein schöneres Mittel denken, um die captatio pwa_292.018
benevolentiae, die dem Prediger sonst beinahe ganz benommen ist, pwa_292.019
nicht nur beizubehalten, sondern ihr auch noch eine höhere, echt christliche pwa_292.020
Wendung zu geben. Der weltliche Redner sucht Gunst für seine pwa_292.021
Person und Wohlwollen für seine Zwecke bei der menschlichen Zuhörerschaft: pwa_292.022
dem geistlichen Redner könnte dafür das Gebet eine captatio pwa_292.023
benevolentiae sein, aber eine an Gott gerichtete, eine captatio benevolentiae pwa_292.024
divinae. Aber es hat auch seine Vortheile, wenn man den pwa_292.025
Eingang mit dem Gebete beschliesst: auf jeden Fall jedoch mehr pwa_292.026
äusserliche Vortheile: dieselbe hohe Bedeutung wie ganz zu Anfang pwa_292.027
besitzt das Gebet hier auf keinen Fall. Die Vortheile sind diese. pwa_292.028
Einmal, dass nur so das jedesmalige besondere Gebet kann deutlich pwa_292.029
geschieden und unterschieden werden von dem, welches der Liturgie pwa_292.030
gemäss bei allen Gottesdiensten unverändert wiederkehrt. Sodann pwa_292.031
kann man am Ende des Einganges dem Gebete mehr ausdrückliche und pwa_292.032
verständliche Beziehung auf das Thema der Predigt geben: denn nun pwa_292.033
ist diess bereits aus den Worten des Bibeltextes abgeleitet, es ist pwa_292.034
exponiert, es ist proponiert und partiert worden; die Gemeinde weiss pwa_292.035
also bereits, warum es sich handle, und sie versteht die Bezüge pwa_292.036
darauf. Das weiss sie am Anfange aber noch nicht, und deshalb wird pwa_292.037
der Prediger, wenn er das Gebet an den Anfang stellt, sehr oft zwischen pwa_292.038
den zwei Uebeln schweben, entweder das Gebet ganz allgemein pwa_292.039
und beziehungslos zu halten, oder aber ihm Beziehungen zu geben, pwa_292.040
die noch Niemand richtig auffasst und würdigt. Noch ein Vortheil, pwa_292.041
den das Beschliessen mit dem Gebete hätte, wäre der, dass damit

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auf das grade vorliegende Thema, eines Gebetes, das also verschieden pwa_292.002
ist von dem, welches bereits die Liturgie vorschreibt, und welches sich pwa_292.003
bei jeder kirchlichen Versammlung wörtlich wiederholt. Aber in Rücksicht pwa_292.004
auf die Stelle des Einganges, an welche diess Gebet zu verlegen pwa_292.005
sei, herrscht keine durchgreifend gleichmässige Uebung: man bringt es pwa_292.006
bald an den Anfang, bald an das Ende des Exordiums; die Homiletik pwa_292.007
pflegt, wie vorher von Neuem ist erwähnt worden, das Erstere vorzuschreiben. pwa_292.008
Es lassen sich für das Eine wie das Andere, und pwa_292.009
auch gegen das Eine und das Andere mehrfache Gründe anführen. pwa_292.010
Für die Stellung des Gebetes gleich an den ersten Anfang des pwa_292.011
Exordiums, also zuvörderst an die Spitze der ganzen Predigt, spricht pwa_292.012
einmal, dass dieser Ort derjenigen Bedeutung, die ein solches pwa_292.013
Gebet haben soll, am meisten angemessen erscheint: denn es ist pwa_292.014
ja ein eigentliches Weihegebet, eine Bitte um Segen zu einem pwa_292.015
Werke, das man beginne: da gehört es natürlich auch am besten an pwa_292.016
den wirklichen Beginn, an den Anfang des Einganges, nicht an dessen pwa_292.017
Ende. Sodann lässt sich kein schöneres Mittel denken, um die captatio pwa_292.018
benevolentiae, die dem Prediger sonst beinahe ganz benommen ist, pwa_292.019
nicht nur beizubehalten, sondern ihr auch noch eine höhere, echt christliche pwa_292.020
Wendung zu geben. Der weltliche Redner sucht Gunst für seine pwa_292.021
Person und Wohlwollen für seine Zwecke bei der menschlichen Zuhörerschaft: pwa_292.022
dem geistlichen Redner könnte dafür das Gebet eine captatio pwa_292.023
benevolentiae sein, aber eine an Gott gerichtete, eine captatio benevolentiae pwa_292.024
divinae. Aber es hat auch seine Vortheile, wenn man den pwa_292.025
Eingang mit dem Gebete beschliesst: auf jeden Fall jedoch mehr pwa_292.026
äusserliche Vortheile: dieselbe hohe Bedeutung wie ganz zu Anfang pwa_292.027
besitzt das Gebet hier auf keinen Fall. Die Vortheile sind diese. pwa_292.028
Einmal, dass nur so das jedesmalige besondere Gebet kann deutlich pwa_292.029
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kann man am Ende des Einganges dem Gebete mehr ausdrückliche und pwa_292.032
verständliche Beziehung auf das Thema der Predigt geben: denn nun pwa_292.033
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/310>, abgerufen am 23.11.2024.