Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_277.001 pwa_277.032 pwa_277.001 pwa_277.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0295" n="277"/><lb n="pwa_277.001"/> dreitheilig. Aber es ist bei der Rede ein äusserer Anlass, der zur <lb n="pwa_277.002"/> Betrachtung und Erörterung der behandelten Wahrheiten getrieben <lb n="pwa_277.003"/> hat, und es kommt bei ihr zu dem unmittelbaren theoretischen Zwecke <lb n="pwa_277.004"/> der Ueberzeugung noch ein mittelbar practischer: es soll, wenn die <lb n="pwa_277.005"/> Rede vorüber, nicht bloss etwas gewusst, es soll auch etwas gewollt <lb n="pwa_277.006"/> und gethan werden; sie zielt nicht bloss auf das Wahre, sondern <lb n="pwa_277.007"/> darüber hinaus auch noch auf das Gute. Um diess Resultat herbeizuführen, <lb n="pwa_277.008"/> bedarf es nun nächst der Einwirkung auf den Verstand noch <lb n="pwa_277.009"/> der Einwirkung auf den Willen, nächst der Ueberzeugung noch der <lb n="pwa_277.010"/> Ueberredung, diess Wort natürlich nicht in dem gemeinen Sinne genommen, <lb n="pwa_277.011"/> sondern in dem höheren, den ihm die wissenschaftliche Sprache <lb n="pwa_277.012"/> gegeben hat, wo auch die reinste und ehrenhafteste Einwirkung auf <lb n="pwa_277.013"/> einen fremden Willen so genannt wird. Um aber auf den Willen einzuwirken <lb n="pwa_277.014"/> und ihn zu bestimmen, müssen Einbildung und Gefühl angeregt <lb n="pwa_277.015"/> werden: demnach bleibt der dreitheilige Bau der Abhandlung <lb n="pwa_277.016"/> zwar auch die Grundlage für den Bau der Rede, aber die practischen <lb n="pwa_277.017"/> Beziehungen und die Einmischung von Gefühl und Einbildung geben <lb n="pwa_277.018"/> dem Gebäude, das über jener Grundlage errichtet wird, die vielgliedrigste <lb n="pwa_277.019"/> Mannigfaltigkeit. Der factische Anlass will auch, und dieser <lb n="pwa_277.020"/> natürlich gleich zu Anfange im ersten Theile, angegeben sein, der <lb n="pwa_277.021"/> practische Zweck verlangt seinen stärksten Ausdruck natürlich im <lb n="pwa_277.022"/> letzten, im dritten; und so drängt sich Alles, was die Rede vor der <lb n="pwa_277.023"/> Abhandlung voraus hat, in den ersten und in den dritten Theil, an <lb n="pwa_277.024"/> den Anfang und an das Ende, und nur der mittlere Theil bleibt allgemein <lb n="pwa_277.025"/> betrachtet in der Rede so beschaffen, wie er es in der Abhandlung <lb n="pwa_277.026"/> ist: Kern und Mitte bildet auch hier die auf den Verstand berechnete <lb n="pwa_277.027"/> Wirksamkeit des Verstandes, bildet die Abhandlung im engeren <lb n="pwa_277.028"/> Sinne, die zur Ueberzeugung führen soll; wenn auch dieser Theil von <lb n="pwa_277.029"/> der Einbildung und dem Gefühl gefärbt wird, so ist das eben eher <lb n="pwa_277.030"/> nur eine Färbung, damit er im Aeusseren nicht gar zu sehr absteche <lb n="pwa_277.031"/> von den anderen Theilen: sein Wesen aber ist rein verständig.</p> <p><lb n="pwa_277.032"/> Bei solchem Verhältnisse der Rede zur Abhandlung zerfällt zwar <lb n="pwa_277.033"/> auch jene in drei Glieder, die wie die der Abhandlung benannt werden, <lb n="pwa_277.034"/> nämlich in <hi rendition="#i">Eingang, Ausführung</hi> oder <hi rendition="#i">Abhandlung</hi> und <hi rendition="#i">Beschluss,</hi> <lb n="pwa_277.035"/> oder lateinisch <hi rendition="#i">exordium</hi> oder <hi rendition="#i">expositio, disputatio</hi> und <hi rendition="#i">conclusio.</hi> <lb n="pwa_277.036"/> Aber in das Exordium gehört hier neben der Exposition der Wahrheiten, <lb n="pwa_277.037"/> welche sollen behandelt werden, noch die Angabe des factischen <lb n="pwa_277.038"/> Anlasses, und zugleich wird hier der erste Versuch gemacht, auf <lb n="pwa_277.039"/> den Willen einzuwirken; und in der conclusio kommt zu der verständigen <lb n="pwa_277.040"/> Zusammenfassung des bis dahin Disputierten noch die Beziehung <lb n="pwa_277.041"/> auf den practischen Zweck und deswegen auch ein wiederholter und </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [277/0295]
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dreitheilig. Aber es ist bei der Rede ein äusserer Anlass, der zur pwa_277.002
Betrachtung und Erörterung der behandelten Wahrheiten getrieben pwa_277.003
hat, und es kommt bei ihr zu dem unmittelbaren theoretischen Zwecke pwa_277.004
der Ueberzeugung noch ein mittelbar practischer: es soll, wenn die pwa_277.005
Rede vorüber, nicht bloss etwas gewusst, es soll auch etwas gewollt pwa_277.006
und gethan werden; sie zielt nicht bloss auf das Wahre, sondern pwa_277.007
darüber hinaus auch noch auf das Gute. Um diess Resultat herbeizuführen, pwa_277.008
bedarf es nun nächst der Einwirkung auf den Verstand noch pwa_277.009
der Einwirkung auf den Willen, nächst der Ueberzeugung noch der pwa_277.010
Ueberredung, diess Wort natürlich nicht in dem gemeinen Sinne genommen, pwa_277.011
sondern in dem höheren, den ihm die wissenschaftliche Sprache pwa_277.012
gegeben hat, wo auch die reinste und ehrenhafteste Einwirkung auf pwa_277.013
einen fremden Willen so genannt wird. Um aber auf den Willen einzuwirken pwa_277.014
und ihn zu bestimmen, müssen Einbildung und Gefühl angeregt pwa_277.015
werden: demnach bleibt der dreitheilige Bau der Abhandlung pwa_277.016
zwar auch die Grundlage für den Bau der Rede, aber die practischen pwa_277.017
Beziehungen und die Einmischung von Gefühl und Einbildung geben pwa_277.018
dem Gebäude, das über jener Grundlage errichtet wird, die vielgliedrigste pwa_277.019
Mannigfaltigkeit. Der factische Anlass will auch, und dieser pwa_277.020
natürlich gleich zu Anfange im ersten Theile, angegeben sein, der pwa_277.021
practische Zweck verlangt seinen stärksten Ausdruck natürlich im pwa_277.022
letzten, im dritten; und so drängt sich Alles, was die Rede vor der pwa_277.023
Abhandlung voraus hat, in den ersten und in den dritten Theil, an pwa_277.024
den Anfang und an das Ende, und nur der mittlere Theil bleibt allgemein pwa_277.025
betrachtet in der Rede so beschaffen, wie er es in der Abhandlung pwa_277.026
ist: Kern und Mitte bildet auch hier die auf den Verstand berechnete pwa_277.027
Wirksamkeit des Verstandes, bildet die Abhandlung im engeren pwa_277.028
Sinne, die zur Ueberzeugung führen soll; wenn auch dieser Theil von pwa_277.029
der Einbildung und dem Gefühl gefärbt wird, so ist das eben eher pwa_277.030
nur eine Färbung, damit er im Aeusseren nicht gar zu sehr absteche pwa_277.031
von den anderen Theilen: sein Wesen aber ist rein verständig.
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Bei solchem Verhältnisse der Rede zur Abhandlung zerfällt zwar pwa_277.033
auch jene in drei Glieder, die wie die der Abhandlung benannt werden, pwa_277.034
nämlich in Eingang, Ausführung oder Abhandlung und Beschluss, pwa_277.035
oder lateinisch exordium oder expositio, disputatio und conclusio. pwa_277.036
Aber in das Exordium gehört hier neben der Exposition der Wahrheiten, pwa_277.037
welche sollen behandelt werden, noch die Angabe des factischen pwa_277.038
Anlasses, und zugleich wird hier der erste Versuch gemacht, auf pwa_277.039
den Willen einzuwirken; und in der conclusio kommt zu der verständigen pwa_277.040
Zusammenfassung des bis dahin Disputierten noch die Beziehung pwa_277.041
auf den practischen Zweck und deswegen auch ein wiederholter und
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